Die Kraft der Lieblingsgeschichten und ein Gärtner, der Leben bringt

20.04.2025

Predigt von Bischof Christian Stäblein an Ostersonntag in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche

Die Worte zur Predigt stehen heute, am Ostersonntag, bei Johannes im 20. Kapitel: Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Als sie nun weinte, beugte sie sich in das Grab hinein und sieht zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, einen zu Häupten und den andern zu den Füßen, wo der Leichnam Jesu gelegen hatte. Und die sprachen zu ihr: Frau, was weinst du? Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben. Und als sie das sagte, wandte sie sich um und sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist. Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir: Wo hast du ihn hingelegt? Dann will ich ihn holen. Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister! Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott. Maria Magdalena geht und verkündigt den Jüngern: »Ich habe den Herrn gesehen«, und was er zu ihr gesagt habe. 

Liebe Gemeinde, Lieblingsgeschichten – am besten sind sie, wenn sie Lieblingsmenschen erzählen. Sie kennen das vermutlich. Der Vetter, der immer zum Fest dabei ist. Und der so schöne Geschichten im Gepäck hat. Braucht es nur einen Augenblick, eine Geste oder ein Wort in anderem Zusammenhang, Trigger nennt man das inzwischen, und dann sprudelt er los. Je öfter er die gleiche Geschichte erzählt, desto schöner wird sie. 

Bei meinem vor langer Zeit verstorbenen Onkel Hans war das gerne die Story von den zwei Schädeln Schillers. Die liebte er – bzw. den kurzen, leicht absurden Aphorismus dazu, der in etwa so ging. Sagt jemand: Von Friedrich Schiller haben wir zwei Schädel. Von denen einer vermutlich unecht ist. Weil: Schiller ist ja nur 45 Jahre alt geworden. Mein Onkel liebte die Absurdität des „vermutlich unecht“ – einer muss ja falsch sein, ist doch klar. Er konnte immer wieder über diese Absurdität lachen. Und er liebte den Quark der scheinbaren Begründung mit den 45 Jahren. 

Kausalität, wo doch gar keine ist, aber behauptet wird. Komisch. Naja, Sie merken schon, als ich klein war, musste er mir den Witz darin immer wieder erklären. Inzwischen ist es auch eine meiner Lieblingsgeschichten geworden. Zwei Schädel, wie morbide. Und gerade darin ja lachen über den Tod, halt einmal anders. Wir wissen inzwischen dank DNA-Analysen, man kann das nachlesen, dass wohl beide Schädel, die wir Schiller zugeschrieben haben, nicht die echten sind. Das Grab ist in der Hinsicht nun tatsächlich leer. Wenn das mein Onkel noch erfahren hätte, was soll man sagen: Frohe Ostern.

Also, Sie kennen das vermutlich. Lieblingsgeschichten am Ostertisch, wenn Menschen sie erzählen wickelt sich was aus, gar nicht unbedingt stringent, eher, dass man von einem aufs andere kommt. Wie die Charlotte, die ja schon immer berühmt dafür war, noch mal was Neues auszuprobieren, Du erinnerst dich, sie hatte ja schon mit 19 mit ziemlich klaren Sprüchen ihre Bankkauffrau Ausbildung abgebrochen – zählen können doch andere, ich will noch mal was sehen – und schwups, war sie in Schweden und wurde Erzieherin. Lieblingsgeschichte, wie sie dann aber genau da für die Buchhaltung zuständig wurde, die Preußin eben, wie sie sie nannten – und so weiter, die Geschichte wickelt sich aus und zieht sich auch, das gebe ich zu, bis Du beim kaputten Knie ankommst, das sie sich geholt hat, als sie ein paar Jahre für diese Hilfsorganisation in Bosnien war, Flüchtlingscamp, vor allem Kinder, eben, Erzieherinnen gesucht, ok, Sie ahnen schon, wie so Geschichten laufen, hier ein Osterei, da eins, und huch, schon wieder hier, selbes Geschichtenversteck wie letztes Jahr – gibt ja auch nicht unendlich viele Verstecke in der immer gleichen Wohnung, auch so eine Sache. Ostern ist Zeit für Lieblingsgeschichten, die stehen quasi neu auf und wir darin, immer wieder und immerzu weil – na, worin sollten wir sonst auferstehen als darin. Leeres Grab. Zwei Schädel. Ein Gärtner.

Und endlich also, Sie haben es gemerkt, bin ich bei der Geschichte von heute, die – ich gebe es unumwunden zu – zu meinem absoluten Lieblingsgeschichten zu Ostern gehört, falls man das sagen darf in meiner Aufgabe, soll einem doch jede Ostergeschichte gleich lieb sein. Egal. Maria im Garten. Maria und Jesus, den sie für den Gärtner hält. Ich liebe diese Geschichte – und danke Ihnen für die Geduld bis hierhin, denn ich würde sagen: die theologischen Ostereier sind jetzt bis hier alle versteckt in dieser etwas irritierend langen Einleitung. Nun denn, gehen wir ans Suchen und Einsammeln, Korb immer schön auf dem Arm. Vier Fundstücke sind versteckt.

Erstens: Maria kommt nicht gut gelaunt und fröhlich in den Ostermorgen. Maria weint. Dieser Umstand wird allein viermal erwähnt, also wirklich ziemlich betont. Sie weinte – und als sie nun weinte – was weinst du, was weinst du. Das hat schon fast absurde Züge, schon die Frage an sich. Was soll man sonst tun, wenn einer der wichtigsten, das Leben, die Hoffnung, den Glauben bestimmenden Nächsten gerade hingerichtet worden ist. Sie weint, na klar. In kaum einer Geschichte und durch kaum eine Person wie durch diese Maria ist am Ostermorgen so sehr zu spüren, dass wir von Karfreitag herkommen und da, wenn wir es ernst gemeint haben, irgendwie auch noch feststecken, zumal in den Tränen, wo denn sonst. Ich brauche ja vermutlich kaum aufzuzählen, was uns wie Maria und mit Maria die Tränen in die Augen treibt. Dass die Kriege dieser Welt nicht mal zu Ostern Pause machen. Und wenn, keine richtige Pause. Oder: Dass wir uns schon fragen können, fragen müssen, wie wir diese verschiedenen auseinanderlaufenden Scheren in unserer Gesellschaft wieder zusammen kriegen wollen: Die einen sterben unter großer Anteilnahme und mit einem riesigen Nachlass. Die anderen verschwinden von dieser Erde ganz allein. Ohne jede Begleitung, ohne jede haltende Hand. Hat dafür jemand Tränen? Maria weint und ich bin froh, dass das im Evangelium Erwähnung findet. Sie hat vermutlich einen Tag lang durchgeweint. Und nicht, wie ich immer öfter höre, Ostersamstag gefeiert. Der Tod hat wohl keinen Raum mehr bei uns, lange schon nicht, die Trauer auch nicht. Freitag zwischen 12 und 15 Uhr allenfalls. Dann können Sie aber schon wieder bei Pflanzen K. oder auch auf den Spargelhof vor den Toren der Stadt einkaufen. Ich kann und will schon gar nicht das irgendwem verbieten, aber ich sage: kein Wunder, wenn wir diesen Zeitenwenden, die mit Corona begonnen haben, ziemlich hilflos gegenüberstehen. 

Der Tod ist nur noch eine Kränkung, die wir wie alle Kränkungen ausblenden, bis sie uns trifft. Und dann sind wir empört, mehr als empört. Maria weint und wenn wir da mitweinen und in diesen Tag gehen und erstmal feststellen: obwohl Ostern ist, ist die Welt ziemlich trüb oder doch wohl noch so trüb wie gestern und vorgestern, dann ist das alles andere als verkehrt. Karfreitag und Gottes Weg in den Tod ist ein Weg da durch, nicht daran vorbei. Wer das nicht wahrhaben will, feiere bitte Frühlingsfeste. Da kann man dann weinen, weil man zig Nieten oder nur Nieten in der Lostrommel zieht. Und selbst, wenn es der große rosa Überteddybär ist, den ich gewinne, weiß ich noch nicht, welche Kompetenz der wohl hat, wenn es eines Tages ums Trösten geht. Wird sich herausstellen. 

Maria erinnert uns, dass es keinen Ostermorgen ohne Karfreitag gibt – es ist sozusagen das Marzipan-Bittermandelei, das hier jetzt zuerst im Sammelkorb landet, kein Wunder, lag ja auch ziemlich offenkundig auf dem Tisch, kannst Du nicht übersehen. Was weinst du? Was? Wie sollte ich nicht? Guck dir die Welt von Karfreitag an. Und sag: ist was anders heute? Ehrliche, tiefe Glaubensfrage: ist was anders heute in dieser Welt?

Zweitens: Die Sache mit dem Gärtner. Wörtlich heißt es: sie meint, es sei der Gärtner. Und dabei wird ja auch noch mal erinnert, was sie so traurig – und womöglich auch wütend macht: Das Grab ist leer, irgendwer, denkt sie, hat wohl den Leichnam weggenommen, geklaut, was auch immer. Wir wissen das, liebe Gemeinde, bis heute: Keine-Leiche ist noch schlimmer als zumindest eine Leiche haben, kein Grab und kein Ort zur Trauer noch schlimmer als ein solcher Ort. Die Rückkehr der Überreste der Ermordeten, die Auslieferung von Leichen – so schrecklich es ist, aber auch das ist ein Zeichen von Humanität. Wenn wir jetzt den 8. Mai begehen, erinnern wir auch den großen Dienst des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, ihr zusammen Tragen bis heute von Knochenfunden, das Bestatten von Schädeln und Gebeinen von Soldaten aus dem zweiten Krieg, bis heute ein Dienst auf dem Kriegsgräberfriedhof in Halbe etwa. 

Am Umgang mit den Toten, am Bestatten erkennt man die Menschen als Menschen, dass wir begraben und erinnern unterscheidet uns von aller anderen Kreatur – mehr als manches, wovon wir meinten, es gehöre zur angeblichen Krone der Schöpfung Mensch, die sich doch endlich vor allem als Mitgeschöpf begreifen muss. – Nun, Achtung, Lieblingsgeschichtenfluss gestoppt, der Gärtner scheint anwesend und präsent. Wen willst Du auch sonst auf dem Friedhof treffen, denke ich. Wenn nicht andere Trauernde, dann doch wohl den Gärtner. Ich liebe diese Szenerie, diese Vermutung, weil sie so sprechend ist. Absurd sprechend. Wer kann mehr Himmel und Erde verbinden als Gärtner. Wer weiß mehr von der Schöpfung. Ist der Schöpfer selbst nicht der große Gärtner, eigentlich, am Anfang der Bibel durchaus so gezeichnet, wenn er abends, wenn es kühl wird, durch den Garten Eden streift und nach Eva und Adam Ausschau hält? Was versteckst Du dich, Adam? Was weinst du, Maria? Da ist er, der große Gärtner, eines der schönsten Gottesbilder. Und dann, uralte Krimiweisheit, gilt ja auch: der Mörder ist immer der Gärtner. Warum, warum eigentlich? Nun, der Gärtner hat Gelegenheit, er hat das Werkzeug, er hat Vermögen. Und dieser Gärtner, dieser da in der Geschichte hat ja tatsächlich wen umgebracht. 

Wen? Na den Tod selbst. Nach dem ersten Mord in der biblischen Weltgeschichte – Kain erschlägt den Abel – ist dies gewiss der wichtigste Totschlag: Jesus erschlägt den Tod selbst. Indem er durch geht. Daran ist sozusagen alles Angeld, alle Hoffnung, dass die eben eins sind: Jesus und der große Gärtner und die Geistkraft, die das bis heute für uns verbindet. So ist jeder Garten, jeder Balkon, jeder Blumentopf mit Osterzwiebel auf dem kleinen Tischchen und neben dem Pflegebett ein Angeld auf die Wiederkehr dieses, den man für den großen Gärtner halten kann. Dass wir uns also recht verstehen. Nicht die Blumen selbst und die anbrechende Natur sind der frühlingshafte kleine, alljährliche, niedliche und Gott verniedlichende Osterbeweis – der hält ja dann immer nur bis zum Welken der Blumen im Herbst. 

Nein, der, der Leben und Schöpfung und uns inmitten von all dem will, der läuft da als Gärtner durch die Auferstehungsgeschichte wie Hitchock durch seine Filme. Und Maria erkennt ihn nicht. Wie auch. Und wie sollten wir, sind unsere Augen doch nicht weniger verheult. Also diese Gärtnernummer, das ist für den Sammelkorb wirklich das gut verstecke, klug gefärbte Ei, das aussieht wie der erdige oder blättrige Hintergrund. Siehst du nicht, guckst du dreimal hin und erschrickst dann womöglich, schlägst Dir an die Stirn, sagst: ach ja, klar, der Gärtner, hat sich aber gut versteckt, gehst du immer wieder dran vorbei. Bis jemand sagt: da ist er doch, dieser Gott.

Also, nächster, dritter Punkt: Er sagt es selbst, niemand anders als er selbst. Spricht Jesus zu ihr. Da wendet sie sich um. Maria. Rabbuni. – Auferstehung, ein Hörerlebnis. Als erstes das. Ein Hörerlebnis. Mit den Bildern von Ostern und zu Ostern ist das so eine Sache, wissen wir, wie sollen wir uns den Auferstandenen ausmalen, geht nicht, dazu das leere Grab, alles eher keine Bilder eben. Aber als er spricht. Und was er spricht. Man denke an die Jünger in Emmaus. Als er das Brot für sie teilt. Und spricht. Und hier, als er ihren Namen sagt. Auferstehung ein Hörerlebnis. Als Du Deinen Namen hörst. Und dazu: Du. Schön, dass Du da bist. Vergeben. Jaja, schon okay. Auferstehung. Ein Hörerlebnis. Mitten in den Lieblingsgeschichten von morgen. Wenn jemand sagt: sollen wir eine Runde um den See laufen? Dass Du mal erzählen kannst, einfach und ohne Pause? Wenn jemand sagt: ich komme heute frühen Abend noch mal vorbei und mache Dir Abendbrot. Du kannst ja gerade nichts machen mit dem geschienten Arm. Wenn jemand sagt: wir werden schon sehen, dass wir deinen Asylantrag durchkriegen und Arbeit für dich finden. Du kannst ja nicht zurück nach Aleppo. Jetzt doch nicht, wo sie die Christen dort furchtbar jagen. Anerkennungsgeschichten. Vergebungsgeschichten. 

Auferstehungsgeschichten. Ich sehe dich-Geschichten. Lieblingsgeschichten. Von heute. Von morgen. Hörerlebnisse. Jesus lebt. Liebe lebt. Glaube lebt. Hoffnung lebt. Jesus lebt. Maria. Rabbuni. Auf dem Weg mit dem Korb vermutlich das schönste Ei. Das ich nicht selbst gefunden habe, es braucht dann immer jemanden, der sagt: guck mal, da, da, siehst Du es nicht. Lila, lila! Jaja, trotzdem gut versteckt, Respekt.

Und letztens. Maria Magdalena geht und verkündigt den Jüngern. Ich habe den Herrn gesehen. Und was er zu ihr gesagt habe. Da sind wir also. Dazu muss man ja nichts mehr sagen. Wir kennen die Geschichte nur, weil sie weiter erzählt wurde. Und wird. Und weil sie uns erzählt wurde. Und wieder erzählt werden wird. Lieblingsgeschichten wickeln sich aus, gerade Ostern. Und am Ende gibt es die schöne Erinnerung, dass sie nur sind, weil man sie erzählt diese Lieblingsgeschichten. Zwei Schädel. Absurd. Ein Gärtner, super. Viel Weinen. Und kräftig Lachen. Schließlich ein Name, Dein Name. 

Die Erinnerung an ihn, an Jesus, an Gott. Er ist da. Das ist die schönste Geschichte dieses Lebens. Ich liebe sie. Und wir haben von ihr, also von der Auferstehung, sogar mehr als zwei Geschichten von Menschen, die dem Auferstandenen begegnet sind. Auf dem Weg nach Emmaus etwa. Wo er bleibt, weil man ihn darum bittet. Und dann das Brot und das Leben teilt. Ach so, mehr als zwei Geschichten, Körbe voll. Von ihnen ist vermutlich, nein sicher, keine unecht. Was nicht damit zusammen hängt, dass Jesus vermutlich nur 30 Jahre alt geworden ist. Sondern damit, dass er lebt. Und Du mit ihm. Lebst. Leben wirst. Lieblingsgeschichte, was sonst. Halleluja. Amen.