Karfreitag: Das Ende, das zum Anfang wird
18.04.2025
Predigt von Bischof Christian Stäblein im ökumenischen Gottesdienst am Karfreitag in der St. Marienkirche Berlin

Liebe Gemeinde, die letzten Worte der Geschichte der Kreuzigung, so wie sie Markus erzählt, lauten so: Markus 15: Und zu der neunten Stunde rief Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Und einige, die dabeistanden, als sie das hörten, sprachen sie: Siehe, er ruft den Elia. Da lief einer und füllte einen Schwamm mit Essig, steckte ihn auf ein Rohr, gab ihm zu trinken und sprach: Halt, lasst uns sehen, ob Elia komme und ihn herabnehme! Aber Jesus schrie laut und verschied. […]
Und der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus. Der Hauptmann aber, der dabeistand, ihm gegenüber, und sah, dass er so verschied, sprach: Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen! Und es waren auch Frauen da, die von ferne zuschauten, unter ihnen Maria Magdalena und Maria, die Mutter Jakobus des Kleinen und des Joses, und Salome, die ihm nachgefolgt waren, als er in Galiläa war, und ihm gedient hatten, und viele andere Frauen, die mit ihm hinauf nach Jerusalem gegangen waren.
Liebe Gemeinde, es ist das Ende. – Ja, so ist das Ende der Geschichte – und es wird ziemlich schmucklos, ohne größere Schnörkel erzählt. Das ginge auch ganz anders, der eine oder andere wird eine Ahnung von ausgeschmückten Martyrien haben. Heldenepen kennen Menschheit und auch Christenheit gerade fürs Sterben. Das Evangelium hält sich davon fern. So ist das Ende hier sehr real: Hässlich bis in die vermeintliche Hilfe. Hat der, der da stand und anreichte mit saurem, wässrigem Wein, den entsetzlichen Schmerz Jesu noch mal lindern wollen? Oder ist der Essig, der doch noch mehr Durst macht und brennt, der Hohn auf dem Spott auf allem oben drauf? Die Rede von Elia ist es jedenfalls. Hässliche Fratze und Hohn, gegossen über das Ende. Das ist es. Jesus schreit. Markus hat diesem Schrei noch Artikulation gegeben. Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen. Also: Noch im schlimmsten Elend und in der Einsamkeit des Todes hält dieser Sterbende durch: es bleibt sein, „mein“ Gott – nicht irgendeiner, nicht Gott an und für sich irgendwo und nirgendwo – „mein“ Gott. Und dann, danach, der Schrei als Schrei pur. Des Menschen Schrei. So hat es angefangen, vermutlich, gleich nach der Geburt, Luft in die Lungen. Und so endet es. Luft aus den Lungen. Atem raus. Geist raus. Seele raus. Luft raus. Aus. Aus und vorbei. Das ist das Ende. Hässlich. Schnörkellos brutal. So ins Evangelium, ins Buch gestellt. Heute würde man es ins Netz stellen. Bevor die Umstehenden zu Hause wären, wäre es schon überall geteilt. Als reel auf Insta oder was auch immer. Allgegenwärtige Fratzen der Welt. Das Ende der Geschichte. Des Menschen. Jedes Menschen auf dieser Welt. Wer gemeint hatte, wer überhaupt meint, es ginge am Tod vorbei, es gäbe da einen Weg – durch Werke, durch Güte, durch Geld, durch Verdrängung, durch Vermächtnis, durch unverzichtbar sein für die Umwelt, durch ewige Erinnerbarkeit – wer das gemeint hatte, sieh her: so geht es zu Ende. Die Mortalität, die Sterblichkeit der Menschen liegt bei 100 Prozent, Vorsorge hin oder her, Wert der Seele her oder hin. Jesus ist ein Mensch. Hier ist es zu Ende.
Schnörkel- und schmucklos wird es erzählt. Wohl auch, damit wir nichts beschönigen. Das Kreuz ist ein Folter- und Todesinstrument zur Abschreckung gewesen, der langsame, qualvolle Tod, damit jeder weiß, was mit denen passiert, die sich nicht fügen in das System, die römische Ordnung, die Hierarchien der Welt, die Reiche der Macht, die Wut der Herrschenden, die Fratzen der Mächtigen, ihr Brüllen. Wir haben es vor uns, oh ja, heute wieder mehr.
Da gibt es also nichts zu beschönigen, wer zu schnell, zu früh, zu eilig und um der eigenen, inneren, Tod verdrängenden Abkürzungen aus dem Kreuz ein Glanz-, ein Silber, ein Goldstück machen möchte, der zerschellt an den Worten heute. Wir sehen und hören stattdessen von den Handlangern und Helfern, die sich immer finden, überall auf der Welt, wenn das Morden befohlen und das Leben auszulöschen zum Instrument der Macht wird. Überall. Wer will das aufzählen, wer könnte es. Im Sudan. In Sumy. In Syrien. In Südisrael. Und in Gaza. Das Töten lässt uns nicht los. Und bindet uns doch zusammen, ja verbindet uns, diese ganze Welt verbunden im Sterben und Wüten – im Ende sind wir vereint. Auch das bedeutet das Ende der Geschichte, dieser und – so denkt mancher wohl – aller Geschichte. In der Tat: in Jesu Tod ist doch alles erzählt, vorweggenommen. Was soll, was kann noch kommen nach dem Tod des Sohnes Gottes? Was, was nicht schon darin erzählt wäre, an Fluch, Einsamkeit, Durst, Qual, Zurschaustellung? Aus. Auserzählt. Ach ja, vom Ende der Geschichte hatten manche vor 35 Jahren geträumt, geredet, die Mauern gefallen, die eisernen Vorhänge, nun ist sie gut, die Geschichte, zumindest ihr permanentes Gegeneinander zu Ende, dachten wir. Nun: Wie es zu Ende geht, erzählt der Tag heute seit 2000 Jahren.
Das Ende des Menschen, jedes Menschen, dieses besonderen Menschen. Das Ende Gottes auch in ihm. Darf man das sagen? Umgekehrt: dürfte ich es verschweigen? Es stirbt der Gott, von dem Menschen immer wieder glaubten, hofften, er sei so eine Art gute Maschine der Welt, rechtzeitig eingreifend, das Schlechte und Böse mit einem Knall verhindernd. Es ist das Ende dieses Gottes, wir hören es ziemlich ausdrücklich in den Erzählungen heute. – Und aber auch, ja auch das Ende dieses zutiefst berührbaren, in der radikalen Liebe dieses alle und alles anrührenden, ins Leben wendenden Menschen Jesus, in dem Gott lebt. Der stirbt ja auch. Warum? Könnte es nicht wenigstens der Sieg dieses berührbaren, leidenden, mitgehenden und mitleidenden Gottes sein? Der Schrei am Kreuz als letzter oder erster Triumphschrei Gottes im tiefsten Schmerz? Hier, seht den Überwinder? Man hat ihn immer mal wieder so gedeutet diesen Schrei. Noch vor dem Sterben dann doch der Sieg Jesu, Gottes. Bitte.
Es ist das Ende, liebe Gemeinde, auch jenes Glaubens, es gäbe eine andere Rettung als die durch den Tod hindurch. Es ist dieser Gott, der stirbt, weil er – entzweit mit sich und entzweit mit uns – in den Tod und durch den Tod hindurch geht.
Ich möchte, nein: ich kann mit keiner anderen Botschaft aufwarten heute. Ich könnte ja auch nicht anders als so drüben in der Onkologie der Charité sitzen bei den Fragenden, Sterbenden. Ich kann mit keiner anderen Botschaft den Geschwistern der ukrainischen Kinder und Frauen und Männer begegnen, die bei den Drohnenangriffen gestorben sind. Diese Tage. Und ich kann auch nicht anders den russischen Kindern begegnen. Und auch nicht anders denen im Sudan. Ich konnte auch nicht anders dem Freund des Freundes begegnen, der nach dem Unfall des Freundes nicht wusste, wozu überhaupt weiter und wozu noch. Und auch nicht den Eltern der Tochter, die nach Jahren doch nicht mehr kämpfen konnte und dann starb. – Gott geht da mit. Da durch. Siehe: Aber Jesus schrie laut und verschied.
Ich weiß, liebe Gemeinde, so dürfen wir, so darf ich nicht wirklich reden. Diese Welt braucht Hoffnung, wir brauchen Hoffnung, mehr womöglich als manches Jahr, an das wir uns zuletzt erinnern. Es ist schwer, an Karfreitag so zu reden und auch ich kann und tue das ja nur, weil ich um Ostern weiß und von übermorgen her auf heute schaue. Auch in der Geschichte vom Karfreitag, in ihrem Ende, klingt dieses andere schon an. Es liegt in den Frauen und es liegt an den Frauen, von denen das Evangelium erzählt, sie sind da, die Gefährtinnen, die Männer aus dem Freundeskreis sind wohl alle geflohen, aber die Frauen sind da, am Kreuz, und sie werden wieder da sein, die ersten am leeren Grab. Wir hören es durchklingen heute. Gut so. –
Jesu Weg, Gottes Weg führt durch den Tod. Eben durch, nicht dran vorbei, nicht abgekürzt, nicht falsche Hoffnungen gemacht, nicht Schmuck und Schnörkel und Heldenepos am falschen Ort. Es wäre ja sonst falscher Trost – ein lächerliches wird schon oder wart mal ab, wird schon nicht so schlimm oder wir machen das schon oder wir holen Hilfe oder was man so sagt, wenn man es selbst nicht wahrhaben will. Nein, nein, es ist so. Das ist das Ende. ---
Hier, ehrlicherweise, hier fängt die Geschichte an. Denn, auch das muss man natürlich sagen: weil wir wissen, dass Gott mit uns durch dieses Ende geht, gegangen ist, leben wir schon anders. Ach, ich würde, ich wollte Ihnen jetzt die Geschichte erzählen von der Frau, die tagelang, Wochen, Monate, wie erstarrt saß. Und dann aufbrach, ein langer Weg, eine neue Welt, ein Geschäft ohne Angst, ein Leben mit Blumen und Malen und Heilen und Helfen fern der Heimat. Oder von dem Menschen, der voller Ängste war, kaum noch einen Schritt konnte er, sich in keinen Fahrstuhl und auf keine Brücke mehr traute, alle Plätze mied, bis er eine Diagnose bekommt, in anderer Sache eigentlich, die Ärztin sagt: Sie haben nur noch – na, Sie wissen wie das abläuft. Aber da ist, da wird er frei von Ängsten, weil er das Ende irgendwie durchlebt hat schon, kann plötzlich alles, Fahrstuhl, Brücke, Leben. Wie getauft, würde ich sagen, schon gestorben und am Leben. Naja, die Geschichte nimmt noch drei unerwartete Wendungen, aber ich erzähle sie Ihnen heute nicht. Nicht jetzt, nicht hier. Ist übermorgen. Es geht jetzt durch den Tod. Er geht jetzt durch den Tod. Und unser, Ihr, mein Leben wird ein anderes. Genau da, genau da war das. Und wird das sein. – Wir fangen mit diesem Ende doch an, oder? Amen.