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Predigt von Bischof Christian Stäblein zu Röm 13,1-7

Das Wort des Bischofs auf rbb 88,8 vom 26. Mai 2024

Liebe Geschwister, wenn man nicht aufpasst beim Sprechen, verwischt schnell ein kleiner, aber entscheidender Unterschied. Günter Jauchs beliebtes Fernsehquiz „Wer wird Millionär“ hat mich vor ein paar Tagen darauf gebracht: Der fliegende Teppich ist nur durch Wegfall eines Buchstabens von seinem Gegenteil entfernt. Eilig gesprochen wird es versehentlich ein liegender Teppich.

Nun: Zu Pfingsten und danach fliegt der Geist ja zum Glück, auch kirchlich, aber: Zur Ruhe kommen, mal einfach auf dem Teppich bleiben und ausruhen wäre auch keine schlechte Geisteshaltung. Jedenfalls empfiehlt es sich, den Unterschied zu kennen, zu bewahren, ja immer wieder bewusst auch den Unterschied zu machen.

Das Wortspiel im Griechischen Original unseres gerade gehörten Predigttextes können wir im Deutschen nicht so leicht nachempfinden. Da steht: Gebt allen, was ihr jeweils schuldig seid, Steuern, denen ihr Steuern schuldet, Respekt, wem ihr Respekt schuldet – Steuer heißt auf Griechisch foros, Respekt oder Ehrfurcht heißt fobos. Ganz nah beieinander also und doch: schnell gesprochen schnell verwechselt. Foros, fobos. Auch das andere Wortpaar ist lautmalerisch ziemlich nahe: telos bedeutet Zoll, timä die Ehre, und wieder: achte den Unterschied, gerade weil es ähnlich klingt: das eine dem Staat, das andere Gott. Mind the gap, könnte man, aus der Londoner U-Bahn übertragen, als Nutzer der öffentlichen Verkehrsmittel sagen. Wenige Worte – glasklare Ansage: Achtung an der Bahnsteigkante! Mind the gap.

Achte die Lücke, achte den Unterschied.

Warum? Die Antwort ist einfach. Man kann sie in der Bahn ebenso leicht begreifen wie bei Paulus im Römerbrief: Den Unterschied achten, tut dem Leben gut. Es kommt dann nicht so leicht unter die Räder.

Staatliche Gewalt, so Paulus, tut dem Leben gut – denn sie schützt vor Bösem, indem sie es abwehrt und verfolgt, wo es sich zeigt. Deshalb dient staatliche Gewalt, hilft dir und deinem Leben. Deshalb gebührt ihr Steuer und Zoll, Anstand und Dranhalten. Staatliche Gewalt dient dir, weil sie dem Guten dient und deshalb ist sie Dienerin Gottes. So schlicht – klar, wir werden diese Argumentation gleich noch problematisieren müssen, schon klar – aber zunächst einmal: so schlicht, so überzeugend lautet Paulus’ Argumentation.

Und dann, und darauf kommt es ja jetzt an, dann macht er den entscheidenden Unterschied: Sie ist Dienerin Gottes, diese staatliche Gewalt, die dem Guten verpflichtet ist, aber: sie ist nicht Gott. Sie bekommt den Zoll, den foros, aber nicht die fobos; die Ehrfurcht. Die bekommt Gott. Warum? Auch diese Antwort schlicht: Damit staatliche Gewalt sich nicht in sich selbst verkehrt und so böse wird, damit sie sich nicht überhebt und überhöht. Wie alles, was sich an die Stelle Gottes setzt, sich gegen sich selbst verkehren würde. Staatliche Gewalt in ihrer Funktion dient dem Guten. Aber sie ist es nicht an sich, nicht in sich, nicht aus sich selbst heraus. Gott allein ist gut. Achte den Unterschied. Mind the gap.

In diesen Tagen, liebe Hörerinnen und Hörer, erinnern und feiern wir das Grundgesetz, 75 Jahre in der alten Bundesrepublik und 34 Jahre im wiedervereinigten Deutschland. Mind the gap! Auch da ist nicht alles gleich und nicht gut, alles gleich zu machen, was doch verschieden erlebt wurde und wird in Ost und West.

Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz in Bonn unterzeichnet, in der Nacht zum 24. Mai trat es in Kraft. Das Grundgesetz, das zweifellos die beste Ordnung ist, die sich die Menschen in diesem Land je gegeben haben, ist auch deshalb so fein, weil es entscheidende Unterschiede macht.

Erst so entsteht Freiheit. So fängt das Grundgesetz in seinen ersten Artikeln ja an: Dass die Würde eines jeden – und zwar unterschiedlichen, unverwechselbaren Einzelnen – unantastbar ist. Unantastbar. Achte den Abstand. Mind the gap! Achte die Differenz zwischen mir und Dir. Zwischen Geschlechtern, zwischen Abstammung, Herkunft, Sprache, Heimat, Glaube, politischer oder religiöser Überzeugung.

Achte das, niemand werde deshalb bevorzugt oder benachteiligt, achte die Unterschiede und verschaffe allen so ihr gleiches Recht in Freiheit. So fängt unser Grundgesetz an. Fast. Denn noch davor hält es etwas fest, dass allem vorausgeht: Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und vor den Menschen sei alles, was kommt, gesagt, gesetzt – so sagt es die Präambel, das Vorwort des Grundgesetzes.

Vor Gott und vor den Menschen: Das ist ein gewichtiger Unterschied, weil erst der Mensch, der sich nicht selbst für das Maß aller Dinge hält, weil erst die Gemeinschaft, die weiß, dass sie sich nicht selbst verdankt, weil erst die wirklich frei wird für die Verantwortung, die sie hat. Achte die Lücke, darin wohnt die Freiheit des Lebens.

Zumal, und diesen Unterschied will ich dann doch unbedingt machen, zumal die staatliche Gewalt, von der Paulus spricht, und die Gewalt, von der wir heute im Blick auf unser Land sprechen, eine riesige Differenz beinhaltet. Das römische Reich, das der Römerbrief im Blick hat, ist ein brutales, Caesaren-diktatorisches System. Paulus selbst ist am Ende seines Lebens dieser Brutalität der Verfolgung von Menschen mit abweichendem Glauben – eben damals dem christlichen – zum Opfer gefallen. Und dennoch sagt er als römischer Bürger diese Sätze über die ihn am Ende verfolgende Obrigkeit. Um wie viel mehr gilt das also für Menschen wie uns in der Demokratie – die, das ist der Unterschied – die ja von uns selbst gestaltet wird, gewählt, bestimmt, geregelt, entfaltet.

Die Demokratie ist eine Mitmachform, für die das Wort Obrigkeit im Grunde schon im Ansatz falsch ist. Die Achtung der Differenz und der Unterschiede, ja die Teilung der Gewalten und die Beteiligung aller ist das Wesen der Demokratie. Dass das so bleibt, dafür treten wir klar und leidenschaftlich ein, das sei allen deutlich gesagt.

Und nur am Rande angemerkt: Es liegt in diesem Mitmachwesen einer Demokratie, dass es diesen Gottesdienst im Radio gibt. Es ist das Wesen des öffentlichen Rundfunks, dass er die Menschen, die Gesellschaft, die Verschiedenen beteiligt. In guter Unterscheidung und in aller Freiheit. Was für ein Glück hat, wer unterscheiden kann.

Vor 90 Jahren – im Mai 1934 - haben mutige Menschen die Barmer Theologische Erklärung formuliert und laut gemacht. Die fundamentalen Thesen dieser Erklärung machen entscheidende Unterschiede und halten sie bis heute fest: Im Glauben, in der kirchlichen Gemeinschaft gilt einzig und allein Gottes Wort, keine Ideologie, kein völkisches Verzerren und Verachten von Menschen, kein totalitäres Prinzip. Wo der Staat sich solchem verschreibt, bleibt die Kirche in der Unterscheidung, ordnet sich nicht unter.

Im Gegenteil: Sie benennt, wo sich Obrigkeit selbst überhebt und gegen sich selbst wendet. Das ist die überragende Leistung der Erklärung von Barmen vor 90 Jahren, ein Meilenstein christlichen Bekennens, ja auch Mut, wie wir ihn uns oft so sehr wünschten: Achte den Unterschied und verwehre die Ehre jedem sich selbst auf den Schild hebenden Führer, verwehre sie jedem totalitären System, das Menschen quält und benutzt.

Die Barmer Erklärung beschreibt die Grenze im Verhältnis von Kirche und Staat – wo Freiheit und Verantwortung mit Füßen getreten werden, steht Kirche auf und sagt Nein. Immer schon, immer wieder. Wobei wir auch ehrlich sagen müssen. Nicht immer und nicht von allen wurde so mutig bekannt. Gerade deshalb gilt heute: Wehret dem totalitären Verwischen und Wegwischen von Leben in Worten wie Remigration, in furchtbarem Normalisieren von Antisemitismus, in Menschenverachtung und Ausgrenzung. Im Geist von Barmen und im Namen des Juden Paulus muss es als erstes heißen: Achte die jüdischen Geschwister. Achte sie, unbedingt, laut und deutlich.

Mind the gap. Achte die Lücke. Auch die Zeitabstände und -unterschiede. Es sind andere Zeiten heute als damals im Römischen Reich und als 1949 bei der Formulierung des Grundgesetzes. Das ist ja auch ein hörbarer Unterschied: Es heißt Grundgesetz und nicht Verfassung, es sollte provisorisch sein, vorläufig, damals, mit Blick auf ein da schon geteiltes Deutschland.

Es sollte damit jene Lücke und Freiheit offenhalten, die eine klaffende Wunde war. Das geteilte Land. Als sich die Wunde durch die friedlichen Revolutionäre und ihren Mut zu schließen begann, da war auch die Rede davon, man möge nun auch nach einer gemeinsamen Verfassung suchen.

Auch wenn es anders gekommen ist, erinnern wir ruhig daran, es steckt so Entscheidendes drin: Das Achten der verschiedenen Traditionen – gerade die von Ost und West. Die Verschiedenheit macht reich, das Übersehen von Menschen macht dagegen arm.

Wer unterscheidet, hat mehr vom Leben – sagt man. Und auch: Theologie ist die Kunst des richtigen Unterscheidens. Die starken Worte von Barmen und die des Grundgesetzes sind nicht im luftleeren Raum oder inmitten großer Erfolgsgeschichten entstanden. Es waren mühsam, schmerzlich errungene Worte: dem Tod, den Trümmern, ja der tiefen Schuld abgerungen. Auch Paulus schreibt seinen Römerbrief nicht als Erfolgsapostel, sondern mitten in Streitigkeiten in Korinth und in Ahnung eines ihm drohenden Martyriums. Seine Worte stehen ganz im Zeichen des Kreuzes. Das den Unterschied macht, weil in ihm Gott das Leben zum Sieg gebracht hat. Weil er da aufeinander bezogen hat, was zusammengehören soll. Im Kreuz hat Gott den Tod überwunden, gerade im Abgrund fügt er zusammen, was beieinander sein soll: Gott und Mensch – nichts mehr dazwischen. Mensch und Mensch. Füreinander einstehend.

Wer unterscheidet, na klar, der will und wird ja auch richtig in Beziehung setzen. Darum geht es doch im Leben: um Beziehungen. Nicht allein um den Unterschied, ebenso um das Miteinander. Um die gemeinsame Fahrt, zuckelnd oder rasant, am Orte bleibend oder wie im Fluge, wie auch immer diese Lebensreise – mind the gap. Achte die Menschen und übernimm Verantwortung. Achte Gott. Mit ihm ist das Leben mal fliegender und mal liegender Teppich. Wir wissen, was dazu gehört und was wem gebührt: foros und fobos, Steuer und Ehrfurcht. Sie, die Ehrfurcht, diesem Gott und nur ihm. Ihm sei Ehre in Ewigkeit. Amen.