Eine Kerze in der Dunkelheit

26.05.2021

Vor 60 Jahren gründeten Aktivistinnen und Aktivisten Amnesty International. Die Menschenrechtsorganisation hat viel erreicht - nun gerät sie selbst ins Visier autoritärer Regierungen.

Manchmal reicht ein Zeitungsartikel, um eine Bewegung loszutreten: „Schlagen Sie Ihre Zeitung an irgendeinem beliebigen Tag auf, und Sie werden eine Meldung aus irgendeinem Teil der Welt lesen: Ein Mensch ist eingekerkert, gefoltert, hingerichtet worden, weil seine Ansichten oder religiösen Überzeugungen nicht mit denen der Regierung übereinstimmen.“ Mit diesen Worten beginnt der Artikel „Die vergessenen Gefangenen“ (The Forgotten Prisoners), den der britische Anwalt Peter Benenson am 28. Mai 1961 in der Zeitung „The Observer“ veröffentlichte. Es war die Geburtsstunde von Amnesty International, der größten Menschenrechtsorganisation der Welt.

Benenson rief dazu auf, sich mit Protestbriefen für die Freilassung der politischen Gefangenen einzusetzen. Sein Appell wurde erhört: Mehr als 30 Zeitungen in verschiedenen Ländern druckten seinen Artikel nach, Tausende Menschen beteiligten sich an der Aktion. Kurz darauf wurden die ersten Ländersektionen gegründet, unter anderem in den USA, Großbritannien und Frankreich. Auch in Westdeutschland gründeten der Journalist Gerd Ruge und die Publizistin Carola Stern einen Ableger.

Im September 1962 kamen die Aktivistinnen und Aktivisten in der belgischen Stadt Brügge zusammen und gaben ihrer noch jungen Bewegung den Namen „Amnesty International“. Das damals entworfene Logo - eine Kerze hinter Stacheldraht - prägt das Auftreten der Organisation bis heute. Das Bild erinnert an ein Zitat Eleanor Roosevelts, ehemalige First Lady der USA und Mitinitiatorin der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen: „Es ist besser eine Kerze anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen.

“Heute hat Amnesty nach eigenen Angaben 53 Ländersektionen und kann auf die Unterstützung von weltweit mehr als zehn Millionen Mitstreiterinnen und Mitstreitern zählen. Unabhängigkeit und ein klares Bekenntnis zu den Menschenrechten bestimmen die Arbeit der im Jahr 1977 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Organisation. Bis heute nimmt sie kein Geld von Regierungen an. Neben dem Engagement für politische Häftlinge und gegen die Todesstrafe zählt der Einsatz für Flüchtlinge sowie die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu den Schwerpunkten der Organisation.

Amnesty International sei „eine Bewegung von Menschen, die es persönlich nehmen, wenn die Menschenrechte anderer verletzt werden“, sagt der Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion, Markus Beeko. Das zeigt sich unter anderem bei den sogenannten Urgent Actions (Eilaktionen): Bei einer rechtswidrigen Verhaftung oder einer drohenden Hinrichtung wendet sich ein Netzwerk von 165.000 Aktivistinnen und Aktivisten mit Protestschreiben an die jeweilige Regierung. Im Jahr 2020 startete Amnesty nach eigenen Angaben 170 solcher Protestaktionen - jede fünfte hatte Erfolg und führte zu Hafterleichterungen oder der Aufhebung der Todesstrafe.

Auf der politischen Bühne konnten die Menschenrechtler ebenfalls Erfolge verbuchen. Im Jahr 1984 wurde die UN-Antifolterkonvention verabschiedet, für die sich Amnesty lange eingesetzt hatte. Auch für den im Jahr 2002 errichteten Internationalen Strafgerichtshof hatte die Organisation gekämpft. Es sei wichtig, sich für Institutionen und Abkommen zum Schutz von Menschenrechten einzusetzen, sagt Beeko. „Gleichzeitig dürfen wir akut bedrohte Menschen nicht alleine lassen.“ Die richtige Balance zwischen dem Einzelfall und „systemischen Veränderungen“ zu finden, sei nicht immer leicht.

Mit Sorge blickt Beeko derzeit auf eine autoritäre Wende, die sich in vielen Ländern vollzieht. „Es gibt immer mehr Regierungen, die offen die Menschenrechte ihrer Bürgerinnen und Bürger verletzen“, sagt er. Die Folgen erlebte Amnesty International zuletzt selbst: In der Türkei wurden mit Taner Kilic und Idil Eser erstmals Amnesty-Mitarbeiter zu Haftstrafen verurteilt. Auch in Ungarn würden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Zeitungen beschimpft und beleidigt, erklärt Beeko. „Das ist alles nie dagewesen.“

Amnesty-Gründer Benenson starb 2005 im Alter von 83 Jahren. Vier Jahre zuvor hatte er anlässlich des vierzigjährigen Jubiläums der Organisation erklärt: „Erst wenn der letzte politische Häftling befreit, die letzte Folterkammer geschlossen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen verwirklicht ist, haben wir unser Ziel erreicht.“ Es bleibt noch viel zu tun für die Menschenrechtler.

(epd)

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