27.01.2025
Bischof Christian Stäblein im Gedenkgottesdienst zur Erinnerung an die Opfer der Schoa
Liebe Freundinnen und Freunde,
liebe Gemeinde und Geschwister,
lieber Rabbiner Prof. Nachama, lieber Andreas,
Du hast von dem gesprochen, was wir wie ein Wunder empfinden können, dass das ist, dass es möglich und wirklich ist: das jüdische Leben unter uns, in diesem Land, in dieser Stadt, ja. Wunder und Verpflichtung für uns, Glück und wahrlich Segen, entschuldigt, wenn ich diese Worte nehme, die an Geburtstag erinnern, ausgerechnet heute, aber nun: der Tag der Befreiung ist gewiss immer auch eine Art Geburtstag, ein gewahr werden des Lebens – im Angesicht des millionenfachen Todes.
1,1 Millionen Jüdinnen und Juden wohl allein in Auschwitz-Birkenau in kürzester Zeit entmenschlicht, auf Nummern reduziert, ermordet, vergast, 6 Millionen in der Shoa, dazu auch die vielen Sinti und Roma, gleichgeschlechtlich Liebende, Menschen mit geistiger Beeinträchtigung, die die Nazis ebenso ermordeten, „unwertes Leben“, wie sie es nannten, Nazisprache, wir erinnern das heute an diesem Tag der Befreiung und spüren es als wundersam, dass noch Leben ist, noch Sprechen ist, Glück und wahrlich Segen, dass jüdisches Leben ist und Andreas Nachama mit uns, mit mir, einem Nachkommen der Täter spricht und Gottesdienst zum Gedenken mitgestaltet.
Danke, lieber Rabbiner Nachama, das lässt sich kaum in Worte fassen. Danke. Segen ist das – und Verpflichtung gegen jeden Antisemitismus, besonders in dieser Stadt, auch das hast Du benannt und ich will und muss es von meiner Seite unterstreichen.
Alles Gedenken, alles Erinnern ist nicht viel wert, wenn es sich nicht in einer Haltung gegen Antisemitismus wieder findet. Das gilt es gerade heute zu sagen, die Versuche, die Erinnerung ins Gegenteil zu verkehren, aus Opfern Täter zu machen und sich selbst für das Opfer zu halten, eine Erinnerung auch, die meint, durch permanent abstraktere oder wechselnde Lehren oder durch allgemeinste abstrakte Weisheiten die konkreten Ermordeten und die jüdische Existenz erneut zum Verschwinden zu bringen – wie verräterisch ist das! – das alles muss gerade heute gesagt werden.
Danke, Andreas Nachama, dass Du auch das jetzt gerade gesagt hast und heute mit uns bist. Es braucht dieses Reden. Und das Hören. Es ist eben nicht alles schon gesagt und auch wenn wir gegen alle Geschwätzigkeit an diesem Tag sind, die ja manchmal noch unerträglicher als ein Schweigen sein kann, halte ich doch fest: es ist nicht alles schon gesagt und es würde auch gar nicht reichen oder gut oder genug sein, wenn angeblich alles gesagt wäre, denn dafür ist ja die Erinnerung: dass wir gegenwärtig machen, was war. Das Leben, das ermordet wurde. Die jüdischen Kinder, die hier gespielt haben, in dieser Stadt, in diesem Land. Die Menschen, die Juden und Jüdinnen, die unsere Mitmenschen waren, Mitbürgerinnen und Mitbürger, Geschwister, Nachbarn, Kollegen, Väter und Mütter, Großeltern, lebendig waren sie, ermordet wurden sie. Das erinnern wir und erinnern ihre Namen.
Zu den großen Aufgaben der letzten Jahrzehnte gehörte und gehört das Sammeln der Namen, das Festhalten ihrer Geschichten, das Auslegen von Stolpersteinen, das Aufschlagen jener Namensbücher, in denen ihr Leben festgehalten ist – ich erinnere, wie wir vor einigen Jahren gemeinsam am großen Mahnmal unweit von hier die Namen der Ermordeten vorgelesen haben, den ganzen Tag. Zu Yad Vashem in Jerusalem gehört sie auch, diese Namenssammlung – und auch das Hören auf die Namen der ermordeten Kinder in dem eigenen Erinnerungsraum mit den Spiegeln und den Kerzen. Der Sinn des Erinnerns liegt als erstes im Erinnern selbst. Denn darin ist Leben und die Hoffnung, dass all die Namen der Ermordeten gehalten und geschrieben und gerufen sind und immer gehalten und gerufen und gesagt werden bei Gott, beim Leben selbst. Hört. Hören wir.
Im Erinnern vermischen sich die Zeiten. Wer war, ist jetzt für diesen Augenblick. Sein Name. Ihre Geschichte. Und was sein wird, ist jetzt, zumindest zu spüren. Die Hoffnung des Lebens. Seine Rückkehr. Ihre Rückkehr. Andreas Nachama hat schon gesagt, wie sich die Geschichten heute für uns überblenden, wie wir bei Rückkehr natürlich sofort auch an die Geiseln denken, daran, dass wir nicht ruhen werden, bis alle zurück gekehrt, bis auch die Menschen dann wieder ins Leben zurück gekehrt, im Südland, in Israel, in Gaza, die Kinder hier wie dort. Bring them home, das blendet sich heute darüber, das ist so im Erinnern, das ja immer jetzt ist und von der Zukunft spricht.
Das Eigentümliche an diesem so tief berührenden 126. Psalm ist, dass man bis heute immer wieder nicht weiß, wie man seine Zeitformen wohl am besten übersetzt. Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, werden wir sein wie die Träumenden. Oder: als der Herr die Gefangenen Zions zurück brachte, waren wir wie Träumende. Es gibt viele, die sagen: so müsstet ihr übersetzen. So ist es gemeint. Man kann darüber große Auslegungsdebatten führen. Wurde an ein Geschehen erinnert. Oder wurde eines verheißen. Und man kann sagen: beides. Das ist Vertrauen auf Gott. Erinnern für die Zukunft.
Das Eigentümliche an diesem mich so tief berührenden 126. Psalm ist, dass – wenn man in seinen hebräischen Text guckt – die Rückkehr und die Gefangenen verschmilzen. Es gibt welche, die übersetzen – vermutlich mit gutem Recht und Gründen – : als Gott zurück kehrte, waren wir wie die Träumenden. Oder auch: Wenn Gott zum Zion zurück kehrt, werden wir wie Träumende sein. Sie merken schon, dann gehen die Gefangenen und die Rückkehr Gottes so nahe ineinander, dass sie eins werden. Gott ist ganz bei den Gefangenen. Bei den Ermordeten. Und ganz bei der Rückkehr des Lebens. Bei uns. In dieser Erinnerung und im Morgen. Das ist der Auftrag, wenn wir an diesem Tag erinnern. Diesen Augenblick festhalten. Für die Ermordeten und für uns.
Es ist noch nicht alles gesagt, das wird es nie sein, bis Gott ganz zurück kehrt. Bis dahin gilt es, für die Zukunft zu erinnern. Für die Befreiung wieder und wieder zu kämpfen, für das Leben im Miteinander. Und die Worte des Lebens nicht vergessen. Die Worte des Lebens. Die Namen der Ermordeten. Die Namen der Überlebenden. Die Namen bei Gott, dem Leben selbst. An diesem Tag. Amen.