09.03.2023
Bischof Christian Stäblein: "Nächstenliebe lässt sich nicht aufteilen."
Das vierte der zehn Gebote aus der Bibel lautet: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass dir’s wohlgehe und du lange lebest auf Erden. – Es ist ein gerade auch für unsere heutige, moderne Gesellschaft sehr wichtiges Gebot, denn es mahnt und erinnert uns, wie wir mit älteren Menschen umgehen; es zeigt, wie es um unser Menschsein bestellt ist. Pflegenotstand, Fachkräftemangel in der Altenhilfe, das sagt nichts Gutes über uns.
Das vierte Gebot ist elementar wichtig für uns alle. Wir erleben es gerade in Berlin-Wedding. Ein kirchlich-diakonisches Seniorenstift wird geschlossen, ältere Menschen müssen ausziehen und noch einmal woanders neu anfangen. Wir sehen ihren Schmerz. Ich frage mich sofort, wie das hätte verhindert werden können. So geht es uns wohl allen. Ob bei allen äußeren Faktoren der Entscheidung nicht eine andere Lösung hätte gefunden werden können, ja müssen. So geht es zweifellos auch den Mitarbeitenden in der Diakonie und im Stift selbst. Niemand arbeitet dort, der nicht ein Herz für ältere Menschen hat. Die Menschen, die schon ausgezogen sind oder noch ausziehen müssen werden unterstützt. Keiner und keine wird allein gelassen. Das ist entscheidend. Es ist ein Wesenskern diakonischer und kirchlicher Arbeit, dass die Alten und Schwachen bei uns Schutz erfahren. Und wir spüren, bei allen Bemühungen zu helfen, auch den Verlust von Vertrauen. Ich bin mir sicher, dass das aufgearbeitet wird von den Beteiligten, gerade weil es so schmerzhaft für alle ist. Wo Vertrauen zerstört wurde, kann ich mich nur entschuldigen.
In den Überschriften der letzten Woche wurde oft der Eindruck erweckt, dass nun statt der Senioren und Seniorinnen Geflüchteten geholfen werden soll. Wir sollten niemals Not gegen Not aufrechnen oder gar gegeneinander stellen. Es macht unsere Gesellschaft aus, dass wir für beides sorgen können: Hilfe für Ältere und Hilfe für Geflüchtete. In der Diakonie engagieren sich nur Menschen, die jedem helfen, der Unterstützung braucht, ohne Unterschied. Nächstenliebe lässt sich nicht aufteilen. Mancher spricht deshalb auch von einem elften Gebot – und das lautet: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.