08.04.2020
Der Historiker Protestant Paul Nolte wünscht sich mehr kritische Fragen und fordert eine Befristung der Maßnahmen. Wenn sie bis in den Sommer verlängert werden, "dann geht unsere Gesellschaft kaputt", sagt der Präsident der Evangelischen Akademie im epd-Gespräch.
Berlin (epd). Seit Wochen ist das öffentliche und private Leben in Deutschland wegen der Corona-Pandemie drastisch eingeschränkt. Für heute Lebende ist es ein nie dagewesener Zustand, sagt der Historiker Paul Nolte. Er hadert mit den drastischen Einschnitten, wünscht sich mehr kritische Fragen und fordert eine Befristung der Maßnahmen. Wenn sie bis in den Sommer verlängert werden, "dann geht unsere Gesellschaft kaputt", sagt er.
epd: Professor Nolte, es heißt in der Corona-Krise derzeit oft, so eine Situation habe es noch nie gegeben. Die Frage an den Historiker: Finden Sie eine Parallele in der Geschichte?
Paul Nolte: Wenn man es auf die Lebenserfahrung der heutigen Bevölkerung bezieht, stimmt das schon. So eine Krise hat es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben. Wenn man weiter schaut, mag es Parallelen geben, die einem aber erst Recht Schauer über den Rücken jagen: etwa zum Dreißigjährigen Krieg oder zur Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts.
epd: Einschnitte in Grundrechte sind zwar bei einer Epidemie etwas anderes als in einer Diktatur. Wundert Sie dennoch, dass es so wenig Protest dagegen gibt?
Nolte: Ein bisschen schon, aber es gibt zunächst ja Erklärungen dafür. Da ist der Schockzustand, in den wir geraten sind. Wir befinden uns in einer Fixierung auf das Problem, sitzen wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange. Corona darf uns aber nicht zur Obsession werden, mit einem totalisierenden Charakter. Auch in der Qualitätspresse finde ich durch die Ressorts hindurch kaum noch ein anderes Thema. Ein anderer Grund ist die politische Kultur Deutschlands: Sie ist schon lange zuvor konsensorientiert geworden, was im Vergleich mit den USA zweifellos ein Vorzug ist.
epd: Sind wir obrigkeitshörig?
Nolte: Das finde ich zu stark. "Konformistisch" trifft es eher. Die Gesellschaft lässt sich - wahrscheinlich aus guten Gründen - gerade darauf ein, dem Kurs der Regierung zu folgen. Es ist ja auch richtig, loyal zu sein, weil es eben nicht die Maßnahmen einer Diktatur sind. Was das Verhalten der Menschen auf der Straße angeht, wundere ich mich aber schon, dass es nicht mehr Regungen von spontanem Protest, kalkulierte Regelbrüche gibt. Mir ist klar, wie heikel das ist, aber: Momente des zivilen Ungehorsams dürfen auch in einer solchen Situation nicht fehlen. Denn wir müssen dafür sorgen, dass solche Maßnahmen strikt befristet bleiben, dass Alternativen diskussionsfähig bleiben und kritische Fragen nach den Kosten gestellt werden. Das würde ich mir auch von den Kirchen mehr wünschen.
epd: Wäre das dann Widerstand gegen die von der Politik - und auch den Kirchen - geforderte Solidarität mit Risikogruppen und den Beschäftigten im Gesundheitssystem?
Nolte: Nein, bitte keine Stilisierung zum "Widerstand"! Aber wir müssen aufpassen, dass wir die schmerzhaften Maßnahmen nicht noch romantisch verklären, als eine Art Paradies der superempathischen Gesellschaft. Zum Beispiel erleben wir Formen sozialer Kontrolle, etwa durch Nachbarn, die schauen, mit wem man Kontakt hat. Solidarität mit den Schwächsten und für die alte Nachbarin einkaufen - wunderbar. Aber wir sollten auch mal laut sagen dürfen: Das ist doch schrecklich, was wir gerade erleben. Das ist eine Scheißsituation! Oder mit einem etwas altmodischen, auch biblisch wichtigen Wort: Wir hadern. Weder die Politik noch die Kirchen dürfen die Menschen mit solchen Gefühlen allein lassen.
epd: Es wird längst über ein Ende der Maßnahmen debattiert. Wie lange kann eine Gesellschaft nach Ihrer Einschätzung den derzeitigen Zustand aushalten?
Nolte: An der Oberfläche ist bewundernswerte Disziplin, aber darunter ist das Gewebe der Gesellschaft schon jetzt zum Zerreißen gespannt. Ich sehe nicht, dass eine Verlängerung über den 19. April hinaus gut aushaltbar wäre. Das gilt für Familien, deren Stimmung durch Mehrfachbelastung schwieriger wird, und auch alle anderen, die soziale, physische Kontakte stark vermissen. Eine Verlängerung bis in den Sommer ist für mich nicht vorstellbar. Dann geht unsere Gesellschaft kaputt. Es muss zu Ostern eine Perspektive geben, wie wir aus diesem Zustand wieder herauskommen - quasi eine säkulare Auferstehungsbotschaft.
epd: Sie sind evangelischer Christ, EKD-Synodaler und Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin: Wie werden Sie Ostern verbringen?
Nolte: Es bleibt auch mir nichts anderes übrig, als zuhause zu bleiben. Wir werden prüfen, was die Regeln zulassen, um zugleich Gemeinschaft zu haben. Das ist schwer aushaltbar - sozial natürlich, aber auch christlich, theologisch.
epd: Sie sagten, sie würden sich von der Kirche auch mehr Widerspruch in der jetzigen Situation wünschen. Was fehlt Ihnen?
Nolte: Man erkennt momentan ein bisschen die Staatstreue des deutschen Protestantismus. Ich wünsche mir mehr Ambivalenzbewusstsein statt solidarischem Konformismus. Der Geist der Freiheit muss spürbar bleiben. Die Kirche muss aber auch ihre Binnensituation kritisch beleuchten. Es geht den Kirchen doch wie dem stationären Einzelhandel: Corona kann schon bestehende Schwächen massiv verstärken. Kommen die Menschen danach in die Gottesdienste zurück, oder sogar umso mehr? Ich sehe auch die Gefahr einer neuen Austrittswelle, weil Verbindungen durch die Kontakteinschränkungen lockerer werden. Und die Einkommensverluste vieler Haushalte, an deren Anfang wir gerade erst stehen, werden manchen schärfer auf die Kirchensteuer blicken lassen.
epd: Wenn Sie als Historiker insgesamt ausnahmsweise nach vorn statt zurück schauen, sagen wir 30 bis 50 Jahre: Was hat die Corona-Pandemie wahrscheinlich dauerhaft verändert?
Nolte: Auf der Hand liegen natürlich die wirtschaftlichen Schäden. Das Bild vom "Wiederhochfahren" nach der Krise wie bei einem Computer geht in die Irre, das kann man auch als Historiker sagen. Es sind schon jetzt so viele Brüche erkennbar, dass wir danach in einer anderen Ordnung aufwachen werden - wirtschaftlich und gesellschaftlich. Vom Einkaufen über Kultur- und Sportevents bis zu Reisen: das wird auf Jahre hinaus nicht mehr wie es war. Gesellschaftlich und politisch werden wir bestimmt noch für zehn Jahre eine Konzentration auf Gesundheitsfragen sehen. Pandemie-Pläne werden erneuert, Kapazitäten im Gesundheitssystem ausgebaut bleiben, Ressourcen in diesen Bereich verlagert werden. Wir werden zurückblicken auf eine "vergesundheitlichte" Gesellschaft, also eine starke Fixierung auf dieses Thema. Dass das dann auch eine gesündere Gesellschaft ist, bleibt zu hoffen.
epd: Werden wir vielleicht auch sagen, dass nach Jahrzehnten der europäischen Einigung die Corona-Krise mit den Grenzschließungen die Rückkehr zum Nationalen, zur Abschottung besiegelt hat?
Nolte: Da bin ich nicht so skeptisch. Ich glaube eher, dass sich der europäische Prozess weiterentwickeln wird, inklusive seiner Spannungen. Wir werden an einigen Stellen weiter ein Durchwursteln, an anderen aber auch die Stärkung europäischer Kompetenzen erleben. Es wird gewiss Maßnahmen finanzieller Solidarität geben. Was mir Sorgen macht, ist derzeit nicht die Nationalisierung, sondern die Einschrumpfung von Handlungshorizonten unterhalb dieser Ebene. Als Historiker runzele ich schon die Stirn, wenn Freizügigkeit im nationalen Raum infrage gestellt ist, ich etwa als Berliner derzeit nicht einmal mehr in die 80 Kilometer entfernte Ostprignitz fahren darf, weil es der dortige Landrat verbietet.
epd-Gespräch: Corinna Buschow