10.04.2020
Pfarrerin Ute Gniewoß erzählt im Interview mit ekbo.de, wie die Geflüchteten auf Lesbos leben, wie engagiert manche helfen, und was nötig wäre.
ekbo.de: Frau Gniewoß können Sie sich bitte kurz vorstellen und Ihre Beziehung zu Lesbos beschreiben?
Ute Gniewoß: Ich bin seit vier Jahren Pfarrerin in der Kirchengemeinde Heilig Kreuz- Passion in Kreuzberg. Daneben verbringe ich seit sieben Jahren meinen Urlaub auf Lesbos, wo ich dann in einem kleinen Flüchtlingscamp mitarbeite, das von Griechinnen und Griechen organisiert wird. Auch Moria habe ich während dieser Zeit immer wieder besucht. Einige der Menschen, die dort lebten und die Chance hatten Moria den Rücken zu kehren, kamen unter anderem in unser Camp. Allerdings hatten Tausende von Bedürftigen diese Chance nicht.
ekbo.de: Wie sieht die aktuelle (unabhängig von Corona) politische Situation der Flüchtlinge auf Lesbos aus?
Ute Gniewoß: Leider hat sich die politische Situation in vielerlei Hinsicht eher ins Negative entwickelt.
Betrachtet man noch die ersten Jahre, also in etwa den Zeitraum von 2012 bis 2015, so konnte man damals in der Bevölkerung eine sehr große Hilfsbereitschaft beobachten. Im Jahr 2015 beispielsweise, als es eine hohe Zahl an Neuankünften gab, waren es fast nur griechische Zivilinitiativen und ausländische NGOs (Nicht-Regierungs-Organisationen), die halfen und Unglaubliches dabei leisteten! Und es gibt auch jetzt noch viele griechische Initiativen, die sich engagieren.
Aber durch den Rückgang des Tourismus auf der Insel um bis zu 80% wurden leider auch viele Existenzängste hervorgerufen. Obwohl in der Hauptstadt Mytilini wiederum an den Geflüchteten und ihren Helferinnen und Helfern verdient wurde.
In den letzten Jahren haben außerdem die rechtsextremen Bewegungen zugenommen. Zunächst war es die Partei Goldene Morgenröte, jetzt ist mit Nea Demokratia seit 2019 eine Partei in der Regierung, die Flüchtlinge nicht schützt, kein Interesse an Integration hat und versucht mit sehr nationalistischen Thesen zu punkten.
Darüber hinaus werden Geflüchtete und Helfer kriminalisiert und nicht selten auch überfallen. In den Augen vieler stellen sie vorrangig ein Problem der inneren Sicherheit dar. Auf der Insel erfahren sie kaum noch Schutz und auch Asylanträge können zur Zeit nicht gestellt werden.
ekbo.de: Welche Lebensumstände herrschen in Moria? Wie hat sich das durch die aktuelle Corona-Krise verändert?
Ute Gniewoß: In Moria leben zur Zeit mindestens 20 000 Geflüchtete, davon etwa ein Drittel minderjährig, die von zwei Ärzten pro Schicht versorgt werden müssen. 160 Menschen teilen sich eine Toilette, 200 eine Dusche, 1300 einen Wasserhahn. Dazu kommt noch die Tatsache, dass das Wasser rationiert wird.
Schon in den vergangenen Jahren und auch jetzt ist die Enge im Camp eines der größten Probleme! Menschen vieler Nationen leben unglaublich dicht beieinander. Das führt zu viel Gewalt.
Aber auch die sonstigen Lebensbedingungen der Menschen dort sind katastrophal. So lebt ein großer Teil von ihnen bloß in flatterigen Plastikzelten an einem Hang, wo sie Kälte und Regen ungeschützt ausgesetzt sind. Allein das macht schon krank! So unwürdige Zustände für Menschen, die oft traumatisiert, aber voller Hoffnung in Europa ankamen…
Und natürlich wird unter den jetzigen hygienischen Zuständen Corona eine unglaublich schnelle Verbreitung finden. Die Menschen haben gar keine Chance, sich angemessen zu schützen.
Selbst regelmäßiges Händewaschen ist dort schon ein Problem. Im „wilden“ Teil des Camps gibt es nämlich jetzt gar keine Wasserversorgung mehr und wie schon erwähnt wird auch das Trinkwasser rationiert.
Unmöglich ist außerdem die Einhaltung eines angemessenen körperlichen Abstandes, denn das halbe Leben dort besteht aus Enge und stundenlangem Schlangestehen: Zur Essensversorgung und auch an Wasserhähnen.
ekbo.de: Wie nehmen Sie persönlich die aktuelle Lage wahr? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Ute Gniewoß: Ich habe ich den letzten Jahren immer wieder Menschen erlebt, die aus Moria in das kleine Camp kamen, in dem ich als Freiwillige war.
Sie erzählten z.B. davon, dass es den Sommer über jede Nacht Kämpfe und Gewalt in Moria gab. Die Polizei ist dann mit Tränengas dazwischen gegangen und dieses zog dann in die Zelte. Dadurch bekamen Kinder, die dort schlafen wollten, Anfälle. Die Eltern packten ihre zuckenden Kinder und rannten los, um eine Ambulanz zu finden. Das war kein Einzelfall, sondern geschah immer wieder. Manche Erwachsene hatten Wochen nicht geschlafen, weil sie sich einfach nicht sicher fühlen konnten.
Ein Drittel der Bewohner sind wie gesagt Minderjährige und Eltern werden rasend, verzweifelt und depressiv, wenn sie ihre Kinder nicht schützen können. Ich habe auch viele Geschichten von rassistischen und geschlechtsspezifischen Übergriffen gehört.
Frauen trauen sich nachts nicht auf die Toilette zu gehen, und auch LGBTQ-Personen (lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle und intersexuelle Personen) sind enorm gefährdet. Das alles hat seinen Grund in der unwürdigen Art und Weise, in der die Menschen dort zusammengepfercht miteinander leben müssen und dabei die Basisbedürfnisse nicht befriedigt werden.
ekbo.de: Gibt es bestimmte Erlebnisse, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind?
Ute Gniewoß: Ich habe öfter erlebt, wie Menschen mit Booten ankamen. Sie wollten immer ganz schnell raus aus dem Boot, haben gefragt: „Sind wir in Europa?“ Sie wurden willkommen geheißen und dann waren sie erleichtert, haben Gott gedankt, sind auf die Knie gegangen oder haben sofort mit Angehörigen telefoniert.
Sie glauben, dass sie es geschafft haben und dann werden sie nach Moria gebracht, immerhin ist es auch der Ort der zentralen Registrierung. Was dann kommt, ist ein Schock: Keine Sicherheit, kein Schutz, wieder Willkür durch staatliche Stellen, eingesperrt sein. Da geschieht dann auch eine Retraumatisierung, die nicht messbare Ausmaße hat.
ekbo.de: Wie würden Sie die Entwicklung der Lage innerhalb der sieben Jahre, die Sie sich nun dort schon engagieren, beschreiben?
Ute Gniewoß: Als ständig zunehmende Verhärtung und Polarisierung.
Es gibt nach wie vor sehr tolle und tapfere griechische Menschen, die sich für die Geflüchteten einsetzen, aber sie sind erschöpft und entmutigt. Und die vielen internationalen Freiwilligen, die sich noch immer engagieren, sind nicht mehr sicher.
Auch die Stimmung in der Bevölkerung hat sich verändert. Rassistische Haltungen nehmen zu. Es gibt für die Geflüchteten und die Unterstützenden fast keine Rechte mehr, auf die sie sich verlassen können.
ekbo.de: Was würden Sie sich (und von wem, z.B. EU) wünschen?
Ute Gniewoß: Ich würde mir wünschen, dass die Bundesregierung sich einen Ruck gibt und ein paar Hundert oder auch mehr der am meisten gefährdeten Menschen aus Moria nach Deutschland holt.
Menschen meiner Gemeinde und viele andere haben sich gefreut, dass unser Bischof sich in dieser Frage so eindeutig positioniert hat.
Wir haben selbst Ängste in Corona-Zeiten, aber das darf nicht heißen, dass wir jetzt Begriffe wie Solidarität und Nächstenliebe nicht mehr international denken.
Menschenrechte sind ein sehr hohes Gut und wir dürfen die Belastung, die auf den griechischen Inseln von Flüchtlingen erlebt wird, nicht dem Machtspiel von Griechenland, der Türkei und sich abschottenden europäischen Ländern überlassen.
Die Opfer sind einfach nur Menschen, die leben wollen und dafür schon viel auf sich genommen haben. Und natürlich müssen unsere politisch Verantwortlichen das auch gegenüber den Partnern in der EU immer wieder einklagen.
Wir lernen doch gerade noch einmal neu, wie fragil und abhängig wir alle auf der Erde sind. Da ist eben auch auf europäischer Ebene Zusammenhalt für die gefragt, die am schlechtesten dran sind. Noch können wir Menschen aus Moria retten – noch gibt es diese Chance. Die Bundesregierung sollte sie unbedingt ergreifen!
ekbo.de: Wie könnten Kirche und Diakonie Unterstützung leisten, falls Geflüchtete nach Deutschland kommen können?
Ute Gniewoß: Kirche und Diakonie haben ein weit ausgebautes Netz und Erfahrung in der Begleitung von Geflüchteten. Sie können unterstützend tätig werden. Sie sind es ja auch jetzt.
Es wird immer der Rückgang der Ehrenamtlichen in der Flüchtlingshilfe beklagt, aber ich sehe viele, die weiter treu zur Verfügung stehen, aller Unkerei zum Trotz. Wenn Sie so wollen: Ich sehe viele Ostermenschen, die zwar nicht laut und spektakulär, aber kontinuierlich für Geflüchtete da sind.
Interview: Bianca Krüger