Predigt von Präses Harald Geywitz am 26. März 2023 in der Stadtkirche Wittenberge

03.04.2023

Zur Reihe „Leiden_schaftlich für Frieden“

Liebe Schwestern, lieber Brüder,

Friede sei mit Euch!

Friede sei mit Euch? Von welchem Frieden spricht er da? Himmlisch, irdisch, menschengemacht oder doch göttlich?

Lasst uns zunächst hören auf den biblischen Text, der an diesem Sonntag Judika als Predigttext vorgesehen ist:

7Christus hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte; und er ist erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. 8So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. 9Und da er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber der ewigen Seligkeit geworden, 

Die Passionszeit ist eine Zeit der Einkehr, eher ruhig und doch auf Ostern hin ausgerichtet. Die Worte aus dem Hebräerbrief muten uns in dieser Zeit, in der wir aus dem Alltagstrott versuchen herauszutreten, auf den ersten Blick fremd an.

7Christus hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte; und er ist erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. 

Wenn wir Gott in Ehren halten, wenn wir richtig beten, in Gottes Sinne handeln, dann werden wir erhört. So könnten wir den Text verstehen. Halte dich an Gott und tue, was man dir sagt, dann kommt alles in Ordnung. Die darin anklingende strenge Logik, wenn du A sagst, dann bekommst du B, sie mutet uns fremd an. Zu oft hat jeder und jede von uns die Erfahrung gemacht, dass nicht ein gutes Werk ausreicht, um dann den vermeintlich verdienten Lohn zu empfangen. So befremdet uns der Predigttext gleich zu Beginn.

8So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. 

Jesu Leiden, obwohl er Gottes Sohn war, tritt uns in diesem Satz entgegen und befremdet uns. Nicht der strahlende Held, Sonne und wundertätige Friedefürst begegnet uns hier. Es ist der Mensch, der , obwohl Gottes Sohn, grausam leiden muss. Noch fremdartiger erscheint mir der Hinweis darauf, so lerne er Gehorsam. Das Leiden bekommt hier eine Funktion zugewiesen, es dient dazu, Gehorsam zu lernen. Nicht mein Wille, sondern dein Wille, Gott, soll geschehen.

Ohnehin die schwerste Bitte, die wir als Christenmenschen im Vaterunser beten. Ich ertappe mich immer wieder dabei, sie so herunterzuleiern – dein Wille geschehe – so als würde ich leichthin sagen: mach halt, was du willst. Dabei ist es ganz schwergewichtig, wenn wir darum bitten – dein Wille geschehe, nicht meiner, darum bitten wir ganz ernsthaft. Wer selbst in schwerer Krankheit, in Sorge um Angehörige in Gefahr um Gottes Beistand bittet und dann klar und bewusst ergänzt: aber nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe, der spürt die Schwere dieser Worte. Ich kenne deinen Willen nicht, aber er ist entscheidend - dein Wille geschehe.

9Und da er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber der ewigen Seligkeit geworden, 

Der dritte Teil des Textes führt uns wiederum auf Ostern zu. Jesus ist für uns vollendet worden. Wenn wir auf ihn bauen, ihm gehorsam sind, so haben wir teil an seiner Seligkeit. Und das gilt für alle. Also nicht nur für jeden allein, es ist kein Wettbewerb darum, wer dabei sein darf. Alle, die mit Jesus unterwegs sind, die im Bitten sich seinem Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes anschließen, wir werden Teil der gemeinsamen Heilsgemeinschaft.

Liebe Geschwister,

ist das denn zu glauben? Angesichts der vielen Krisen, Katastrophen, angesichts der Angst vor dem Krieg in der Ukraine, der Trauer um Mitmenschen, die getötet und verwundet wurden und werden, den spürbaren Auswirkungen auf uns, auch angesichts der Gefahr der militärischen Eskalation? Ist es denn zu glauben, wie kann da Friede werden?

Im Hebräerbrief wird uns ein Trost versprochen: die Treue Gottes, ist immer da und in Jesus Christus haben wir Anteil daran. Die Treue Gottes, die uns nicht verzagen, sondern hoffen lassen will.

Glaubt Ihr das? Kann ich das wirklich glauben? Persönlich, ja, da geht es doch ganz vielen von uns gar nicht so schlecht. Aber die Weltlage, nach und mit Corona, Klimawandel und nicht zuletzt der Krieg in Europa. Mal wieder Krieg in Europa.

In der deutsch polnischen Grenzstadt Frankfurt an der Oder – Slubice – hat der Künstler Hannes Forster 2017 ein Kriegedenkmal (nicht Kriegerdenkmal, davon gibt es schon genügend) in Form einer Säule geschaffen, die aus 400 Ziegelsteinen besteht. Die 400 Ziegelsteine stehen für 400 Jahre in Europa, und jeder Stein erhielt eine Jahreszahl eingraviert für das Jahr, in dem Krieg herrschte. Die Säule enthält bis 1945 nur ganz wenige Steine ohne Gravuren. Krieg als europäischer Normalzustand.

Ein Ziegel war auch für das Jahr 1631 dabei, sicherlich mit gravierter Jahreszahl. Frankfurt (Oder), vor 392 Jahren, Mitte April 1631, die Schweden haben die Stadt erfolgreich erobert – erfolgreich und mit einem „Preis“ von 800 Toten auf ihrer Seite. 3000 Verteidiger der Stadt wurden getötet. Kurz darauf im Mai 1631 starben bei der Eroberung der protestantischen Hochburg Magdeburg durch kaiserlich-katholische Truppen bis zu 20.000 Menschen. Die Stadt hatte vorher 30.000 Einwohner, 1639 dann noch 400. Es wurden Massengräber mit je rund 100 Toten angelegt, um der Menge der Toten Herr zu werden. Auch hier in der Prignitz gab es solche damals. Und auch heute werden in Europa wieder Massengräber angelegt.

Im 17. Jahrhundert, mitten während dieses Dreißigjährigen Krieges, so nennen wir ihn heute, dichtete Andreas Gryphius im Süden unserer heutigen Landeskirche, ein Gedicht: Tränen des Vaterlandes. Darin heißt es:

Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret!
Der frechen Völker Schar, die rasende Posaun
Das vom Blut fette Schwert, die donnernde Karthaun
Hat aller Schweiß und Fleiß und Vorrat aufgezehret.

Die Türme stehn in Glut, die Kirch' ist umgekehret.
Das Rathaus liegt im Graus, die Starken sind zerhaun,
[Die Jungfern sind geschänd't, und wo wir hin nur schaun
Ist Feuer, Pest und Tod, der Herz und Geist durchfähret.

Hier durch die Schanz und Stadt rinnt allzeit frisches Blut.
Dreimal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme Flut,
Von Leichen fast verstopft, sich langsam fort gedrungen.]

Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
Was grimmer denn die Pest, und Glut und Hungersnot,
Dass auch der Seelen Schatz so vielen abgezwungen.

386 Jahre alt ist dieses Sonett. Doch es könnte wohl auch heute gedichtet werden, angesichts all des Grauens in der Welt und hier bei unseren Nachbarn. Am 23. Februar 2022 standen die Menschen in ihrer Wohnung in Kyiv oder anderen Orten und waren frei, Freunde zu treffen, die Kinder in die Schule zu bringen oder zu arbeiten. Seit 24. Februar ist das anders. Angst, Leid, Tod. Und der Seelen Schatz? Was ist das überhaupt?

Gryphius spielte wohl auf die Seelenpein an, die Angst, die Christenmenschen ergriff, wenn sie mit dem Wechsel ihres Landesherrn in die „falsche“ Konfession gezwungen wurden. Für uns heute kaum vorstellbar. Entweder, weil für sehr viele Menschen der christliche Glaube heute unwichtig ist. Oder, weil uns Christenmenschen das Beharren auf die eigene Konfession fremd geworden ist, das Verbindende zwischen den Konfessionen und sogar Religionen haben wir heute viel stärker im Blick.

Doch der „Seelen Schatz“, der vielen abgezwungen wurde, meint sicherlich auch die grauenvollen Erlebnisse, die der Krieg über die Menschen brachte. So wie heute wieder Menschen um Menschen bangen, Kinder verschleppt werden und der Tod allgegenwärtig ist.

Bitten und Flehen mit lautem Schreien – so beschreibt der Hebräerbrief den bitteren Weg Jesu in seinen letzten Tagen als Mensch auf Erden. Bitten und Flehen und lautes Schreien, das ist heute zu hören aus der Ukraine, wo die Menschen seit über einem Jahr im Krieg leben und sterben. Und wenn wir ehrlich zu uns sind und unser Wegschauen eingestehen, ist das die Realität sogar schon mindestens seit 2014. Der Hebräerbrief erzählt nicht die Geschichte von einem glänzenden Helden, sondern vom Menschensohn, der gelitten hat, der laut geschrien hat, der gefleht hat. Darüber schaut der Hebräerbrief nicht hinweg. So sollten auch wir nicht über das Leid hinwegsehen.

Natürlich liegt angesichts des genauen Hinschauens, die Frage auf der Hand: wozu sind wir Christinnen und Christen berufen? Nicht unser Wille soll geschehen, sondern Gottes Wille soll geschehen. Doch so genau kennen wir ihn nicht. Gewiss sollen wir dem, der unter die Räuber gefallen ist, helfen. Wir sollten ihn nicht nur pflegen, sondern auch schützen, auch dann, wenn die Räuber wieder kommen oder nicht von ihm ablassen.

Doch wie weit wir mit der Hilfe gehen sollen, was nach menschlichem Ermessen angemessen, klug und hilfreich ist, das müssen wir frei und mit all unseren Gaben selbst entscheiden. Unser Gehorsam gilt einem Willen, den wir nicht so ganz verstehen, der immer ein Stück im Dunkeln, wie in einem dunklen Spiegel verbleibt. Wie an anderen wichtigen Stellen der Bibel merken wir, dass die einfach klare Antwort nicht immer möglich ist. Es bleibt ein Raum der Wahrheit, der mit unserer Sprache und unseren Bildern nicht erreichbar ist. Dem wir uns suchend nähern und ihn umkreisen.

Doch wie diese Suche sich gestaltet, auf welche Art und Weise wir um den richtigen Weg ringen, dafür liegt die Richtschnur ziemlich deutlich vor uns. Gottes Liebe wird uns jeden Tag neu geschenkt und sie soll in uns wachsen und weitergegeben werden. Und wer um den Weg zum Frieden in unserer europäischen Nachbarschaft ringt, wer mit gutem Grund die Möglichkeiten und Gefahren abwägt, muss doch um Himmels willen dafür einen friedlichen Weg des Ringens finden.

Der gesellschaftliche Friede, zu dem noch viele andere Punkte gehören, liegt in unser aller Hand, gespeist aus Gottes Liebe. Dankbarkeit für diese Liebe sollte uns erfüllen. Selbst in Zeiten von grauenvollem Krieg und Krisen, nach Beten und im Zwiegespräch mit Gott, nimmt die Dankbarkeit Raum. In der Dankbarkeit verbinden wir uns mit Gott. Dankbarkeit für das, was war. Dankbarkeit für das, was ist. Dankbarkeit für das, was kommen mag. In dieser Dankbarkeit bewahre uns Jesus Christus.

Amen

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