Die richtigen Filme werden in den nächsten Tagen prämiert. Es ist Berlinale. Es tut gut, dass uns das Kino immer wieder in andere Welten führt. Der kritische Blick der Filmemacher öffnet uns die Augen, mahnt und macht zugleich Hoffnung auf andere Zeiten.
In Europa, daran erinnert uns der kommende Sonnabend mit Nachdruck, sitzen wir im falschen Film. Und so ist es noch viel zu zurückhaltend formuliert. Denn es ist ein grausames, schreckliches Bild, das sich den Menschen in der Ukraine bietet. Seit zwei Jahren erleben und erleiden sie einen furchtbaren Angriffskrieg gegen ihr Land, gegen ihre Kinder, gegen ihr Leben. Und auch da wieder muss man sagen: Dass wir von zwei Jahren sprechen, ist nur ein Zeichen dafür, wie sehr wir davor nicht richtig hingeschaut haben. Seit 10 Jahren führt Russland einen imperialistischen Feldzug gegen den Osten der Ukraine. Es ist eine andere Welt, in der wir aufgewacht sind – und alle schönen Bilder und Filme davor waren wohl Illusion.
Insofern erscheint es Ihnen womöglich sonderbar, wenn ich jetzt trotzdem vom Frieden spreche. Aber es ist unsere Aufgabe, uns nicht zu gewöhnen. Nicht auf Dauer einen starren Blick zu kriegen, der nicht mehr hinguckt. Wir sind für die Menschen da, die aus der Ukraine zu uns gekommen sind, über 1 Millionen, aufgenommen und integriert. Und wir sind für die Menschen da, die auf Befreiung und Frieden hoffen – und zwar einen Frieden, der den Namen verdient, kein Sieg-Frieden des Angreifers, sondern einer für die Menschen. Damit das Morden und Sterben aufhört.
Am Freitag und Sonnabend werde ich in verschiedenen Kirchen in Potsdam und Berlin sein, um für diesen Frieden immer wieder zu beten. Gemeinsam mit Menschen aus der Ukraine. Mit vielen aus allen Konfessionen und Religionen. Das Gebet verbindet uns. Es legt sozusagen einen anderen Film über unsere Gedanken und in unsere Herzen. Die Vision Gottes für eine bessere Welt. Keine, die der Welt einen Bären aufbindet. Die nämlich werden ja klug und gut vergeben an diesem Wochenende.
Brandenburg zeigt Haltung. Für Demokratie und Zusammenhalt. So heißt der Aufruf, der seit Dienstag von über 100 Organisationen als Erstunterzeichnern gestartet worden ist. Es geht darum, jetzt, entschieden und erkennbar Gesicht für die Demokratie zu zeigen. Und gegen die vorzugehen, die in menschenverachtender Weise darüber schwadronieren, dass sie ausländische und aus ihrer Sicht missliebige Menschen einer „Remigration“ zuführen wollen, was nichts anderes heißt als: deportieren, vertreiben. Brandenburg zeigt Haltung dagegen. Berlin auch. Das war an den letzten Wochenenden deutlich zu sehen. Am Brandenburger Tor, aber eben auch in Cottbus, in Potsdam, in Perleberg, in Templin und an vielen anderen Orten sind die Menschen auf die Straße gegangen, um zu zeigen: wir sind da. Und wir sind die Mehrheit.
Nun mögen Sie sagen: Warum schreibt das hier ein Mensch der Kirche? Was hat das mit Glauben zu tun? Ich will es schlicht und klar sagen: Glauben ist das Vertrauen in jenen Gott, von dem alle Menschen die gleiche Würde bekommen haben. Wo sich Menschenfeindlichkeit regt, stehen wir im Namen des menschenfreundlichen Gottes auf. Unrecht schreit immer zum Himmel. Das sagen wir laut. Deshalb freue ich mich, dass auf etlichen dieser Demonstrationen Menschen aus der Kirche am Rednerpult standen. Ich will das in dieser Woche so klar sagen, weil es eine besondere Gedenkwoche ist. Vergangenen Sonnabend haben wir an die Wannsee-Konferenz erinnert, jene furchtbare Zusammenkunft von Nazi-Größen, bei dem diese die Durchführung des Holocaust verabredet haben. Übrigens nur 10 km Luftlinie entfernt davon jener Ort, an dem sich das rechtsextremistische Netzwerk nun mit seinen Deportationsplänen getroffen hat. Übermorgen, 27. Januar, ist der landesweite Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. Wir sagen die Namen der von den Nazis Ermordeten vor Gott, gedenken ihrer in Veranstaltungen und Gottesdiensten. Und wir werden gewahr, was Bert Brecht einst auf eine kurze Formel brachte: Der Schoß ist fruchtbar noch aus dem das kroch. Deshalb: Nie wieder ist Jetzt.
Im Alltag der Abläufe erleben wir Weihnachten oft als Unterbrechung. Für ein paar Tage treten Stress und Geschäftigkeit zurück, wobei, ach, die Übergänge sind nicht leicht. Plötzlich sind die Bude und der Kopf ganz voll und dann wieder leer. Das Fest mag schön sein, dennoch bisweilen wie ein Fremdkörper. Kirchlich betrachtet ist das Weihnachtsfest eigentlich eher der Auftakt für die weihnachtliche Freudenzeit, die – je nachdem, wie man rechnet – mindestens weit in den Januar oder auch bis 2. Februar reicht. Da ist Mariä Lichtmess. Bis dahin könn(t)en die Weihnachtsbäume stehen, auch wenn das vielleicht Schwierigkeiten mit den BSR-Abhol-Terminen gibt. Aber im Ernst: Warum sage ich das? Weil es doch darum geht, dass das weihnachtlich-himmlische Licht nicht eine Kurzblendung für ein paar Tage gewesen sein will. Sondern weil mit dem Abhängen der Lichterketten die Hoffnung verbunden ist, dass Gottes Licht in unserem Alltag Raum bekommt. Das mag schräg klingen in diesen Protest- und Streiktagen, die uns gleich zu Jahresbeginn als Gesellschaft herausfordern. Aber gerade da kann es mir helfen, die Menschen im Licht Gottes – und das meint doch: im Licht tiefster Menschlichkeit – anzusehen. Das gibt die Chance, noch mal anders, tiefer, intensiver hinzuhören, hinzuschauen, was Menschen empört, wo sie Ungerechtigkeit erleben, warum das Maß oft voll ist und besonders, warum und wie wenig sie sich gesehen fühlen. Dass wir, wenn wir hinhören, uns auch verstehen und etwas ändern können, davon bin ich überzeugt. Seht die Hausärzte, die zwischen den Jahren zurecht auf die unhaltbare Situation ihrer Praxen mit Streik aufmerksam gemacht haben und jetzt auf einen gemeinsamen Weg mit den politischen Verantwortlichen sind. Nehmt das Licht der Verständigung und des Hinguckens mit, denke ich da. Und besucht euch – gerade auch nach Weihnachten, wenn alle wieder abgereist sind. Besucht die Einsamen. Seht die Ungesehenen. Und freut euch am Licht. Januar ist Weihnachtsfestkreis. Meint: das Licht scheint weiter, auch wenn die Lichterketten wieder eingepackt sind.
Halloween ist dieses Jahr merklich kleiner ausgefallen, so mein Eindruck. Eine Erklärung könnte sein: Wo der Schrecken real so unermesslich ist wie derzeit durch den Überfall auf Israel, den Krieg in Gaza und den Krieg in der Ukraine, da müssen wir keinen künstlichen Schrecken mehr erzeugen und uns auch nicht maskieren. Als jemand, der diesen Halloween-Zirkus immer mit großem Abstand gesehen hat, wünschte ich mich fast in die Unbeschwertheit dieser Tage von Süßes oder Saures zurück.
Nun, dagegen scheint mir der Reformationstag wieder mehr ins Bewusstsein gerückt zu sein. Brandenburg hat ihn ja ohnehin als Feiertag. Richtig so. Er ist auch in der überwiegend säkularen Gesellschaft eine Gedächtnisstütze dafür, dass das Fundament, das uns trägt – uns und den Zusammenhalt von Menschen – nicht von uns selbst hergestellt werden kann. Und dass eine Gesellschaft nicht von Furcht, sondern durch Vertrauen bestimmt werden sollte, auch daran erinnert der Reformationstag mit seiner Geschichte. Fürchte dich nicht – dieser Zuruf ist eine grundevangelische Botschaft, damals wie heute in einer Welt, die wahrlich das Fürchten lehrt.
Der Reformationstag steht noch für eine andere Bewegung, die mehr denn je dran ist: Erneuerung. Eine Kirche, die sich nicht erneuert, erstarrt. Glaube ist immer ein Werden, nie ein fertiges Sein. Zu dieser Erneuerung gehört in den letzten Jahrzehnten auch etwas, was man gut und gerne als zweite Reformation der Kirche bezeichnen kann: die Erneuerung ihres Verhältnisses zu den jüdischen Geschwistern. Dazu gehört die Abkehr von jeder Form von Antisemitismus und von antijüdischen Denkmustern. Die tragen ja gerne viele Masken, hinter denen allerdings immer das gleiche Grauen lauert. Kaum ein größerer Schrecken in der gegenwärtigen Situation als der so lautstarke Antisemitismus. Eine Kirche, die nicht an der Seite der jüdischen Geschwister steht, geht in die Irre. Das will ich mit diesem Reformationstag festhalten und immer neu und wieder sagen.
Was mir heilig ist – das ist das Thema eines Gottesdienstes, zu dem ich heute Abend eingeladen bin. Ich finde das eine gute Frage: was ist mir, was ist uns heilig? Ist uns noch etwas heilig? Die unmittelbaren Antworten darauf liegen auf der Hand. Manche ringen und streiten dafür, dass uns die Schöpfung wieder heilig wird. Also im Sinne von: unbedingt unantastbar. Andere setzen sich mit all ihren Möglichkeiten dafür ein, dass nicht zynisch über das Leben anderer geredet und entschieden wird. Die heftigen Auseinandersetzungen in der Frage des Grundrechts auf Asyl haben etwas damit zu tun: Menschenrechte sind unbedingt, haben etwas Heiliges für uns, sind in diesem Sinne unantastbar. Das ist wohl das intuitive Verständnis von heilig: mehr als nur wichtig, nicht anzutasten. Im Alltag sind das oft auch bestimmte Zeiten – die Zeit mit den Kindern oder mit Freunden oder auch einfach schwer erkämpfte freie Zeiten. Sie haben etwas von diesem Unantastbaren, das auch heißt: auf mich und auf andere gut achten.
Was ist mir heilig. Wenn wir etwas tiefer in die Frage einsteigen, stoßen wir auf jene Momente, in denen Gott nahe kommt, nahe ist. Die Geburt, ich glaube, die meisten Menschen spüren, dass das ein heiliger, kostbarer, ganz besonderer Moment ist. Der Weg auf die Erde. Nicht umsonst feiern wir das ganze Leben den Geburtstag. Auch das Sterben, glaube ich, ist ein heiliger Moment. Der Weg zu Gott, wenn er die Tür aufmacht. Weil das Sterben so stark aus der Nähe Gottes lebt und auf sie angewiesen ist, sind alle Formen, die das Sterben kaputt machen, so schrecklich. Einsames Sterben in Corona etwa. Oder auch der Krieg, der nicht nur Leben zerstört, er vernichtet Gottes Heiligkeit von Leben und Sterben insgesamt.
Was ist mir heilig. Wo ich Gott begegnen kann. Oder besser: wo Gott mir begegnet, mir nahe kommt, das kann ich ja nicht selber „machen“. Gott kann – so verstanden – alles in unserem Leben für Momente „heilig machen“. Nicht nur Anfang und Ende. Wie hieß es früher in einem Werbeslogan: Mittendrin, statt nur dabei.
Menschen vergessen, leider, sehr schnell. Günter Kunert dichtete nach dem zweiten Weltkrieg ein berührendes Antikriegsgedicht darüber. Am Ende dieses knappen Gedichts mit dem Titel „Über einige Davongekommene“ sagt ein Mensch, der aus den Trümmern seines zerbombten Hauses hervorgezogen wird: „Nie wieder. Jedenfalls nicht gleich.“
Heute, am vierten Todestag Kunerts, bestätigen sich seine Worte in schrecklicher Weise erneut. Vielerorts tobt Krieg, außerhalb Europas, aber auch in Europa. Aserbaidschan greift Bergkarabach an. Russland überfällt seit Februar 2022 die Ukraine, führt einen andauernden, brutalen Angriffs- und Vernichtungskrieg. Weil es nun schon so lange anhält, vergessen bzw. verdrängen viele auch das wieder. So hat der ukrainische Präsident bei der jüngsten UN-Vollversammlung diese Woche erlebt, dass mancher der Sache überdrüssig ist. Kriegstreiber und Angreifer setzen auf Gewöhnung und Verdrängung. Dagegen soll und will uns der heutige Weltfriedenstag mahnen: Krieg ist immer schreiendes Unrecht, Zerstörung von Leben. So dürfen wir als allererstes die Opfer nicht vergessen: Die Kinder in den Bunkern. Die Traumatisierten. Die Verwundeten. Die Getöteten. Sie zu erinnern veranstalten engagierte Christinnen und Christen mit der Berliner Versöhnungsgemeinde an jedem 24. eines Monats einen Trauerweg von der ukrainischen zur russischen Botschaft. Sie beten und erinnern uns öffentlich, die Toten nicht zu vergessen, alle Toten! All das bleibt getragen von der tiefen Solidarität mit den Ukrainerinnen und Ukrainern, und der wichtigen Unterstützung für sie.
Der Weltfriedenstag heute ist ein Tag, den die Weltgemeinschaft der Kirchen zu einem Tag des Gebets für den Frieden erklärt hat. So bete ich heute das bekannte Friedensgebet von Franz von Assisi, das mit der Bitte beginnt: Gott, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens. Ich füge an: Dass wir das nie vergessen: Du willst Frieden, Gott. Zeig uns den Weg dahin und gib uns die Kraft dafür.
Die Kirche ist kalt, aber die Herzen sind warm. Die Menschen nicken einander zu in der Thomaskirche in Kreuzberg. Kinder laufen mit Osternesten durch den Raum, bringen sie vor dem Altar in Position. Von Minute zu Minute kommen mehr Menschen, längst sind alle Plätze belegt, hinten wird gestanden.
Ich rede vom vergangenen Sonntag, Osterfeier der orthodoxen Kirche für die Ukrainerinnen und Ukrainer, die bei uns sind. Das orthodoxe Osterfest ist in diesem Jahr eine Woche nach unse-rem, das liegt an dem anderen Kalender, den sie dafür zu Grunde legen. Verschiedene Termine, gemeinsamer Glaube: Der zentrale Satz des Gottesdienstes verbindet ja Christinnen und Chris-ten über alle Richtungen hinweg: Der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden. Der Priester und die Gemeinde rufen es laut im Wechsel auf Ukrainisch. Mehrfach. Immer wieder im Gottesdienst. Immer lauter. Von Mal zu Mal hellen sich die Gesichter mehr auf. Der Herr ist auferstanden: Das ist die große Hoffnung. Dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Dass bei Gott das Leben stärker ist, stärker als der Tod ist die Macht Gottes. Darin liegt auch die Hoffnung, dass der Krieg nicht das letzte Wort hat. Und all das Unrecht und Leid, dass die Menschen in der Ukraine im Moment erfahren, auch das wird nicht das letzte Wort haben.
Es sind vor allem Frauen und Kinder im Gottesdienst, Geflüchtete. Was mit den Männern ist, dafür braucht man nicht viel Phantasie. Ostern im Krieg. Während ich den Menschen im Gottes-dienst zusehe, denke ich: wir reden viel über Waffen. Reden wir auch genug über die Men-schen? Ich sehe die Kinder mit ihren Osternestern, in denen Eier, Schokolade und hier und da Kuchen liegt. Es gehört zum ukrainischen Osterbrauch, dass diese Nester gesegnet werden. Und in ihnen das Leben. Und mit ihnen die Kinder. Die leben wollen. Deren Herzen und Seelen so geschunden sind. Und für deren Seelen Gott sorgen will. Und wir mit ihm, soweit wir können. Gut, dass es diesen Gottesdienst hier in der Thomaskirche gibt. Im Zeichen der Auferstehung
Ostern? Da kommt man von selber nicht drauf!
Weihnachten ist ja irgendwie verständlich: Wir feiern die Geburt, feiern, dass Leben ist, ja dass es immer neu ist. Aber Ostern? Da kommst Du ja nicht drauf, dass der Tod nicht Tod bleibt. Aller Realitätssinn spricht doch dagegen. Im Privaten: Denkst Du ziemlich schnell an die letzte Beerdigung. Viel zu früh ist er gestorben, ein Elend der Krebs. Und in der großen weiten Welt: Der Krieg hat sich eingefressen, nicht weit von hier, mitten in Europa. Tägliches Morden. Fliehen auf der Suche nach Sicherheit. Hilflosigkeit hier. Resignation da. Hoffnung wo?
Willst Du da von Ostern reden? Bist Du bekloppt, noch bei Verstand?
Ostern, also der Glaube, dass Jesus auferstanden ist, dass Gott in Jesus lebt, mitten unter uns, dass er nicht im Tod, nicht im verschlossenen Grab geblieben ist -, das ist ein Fest, auf das man nicht von selbst kommt.
Wie sollte einem das einfallen? Was wir sehen können, ist, wie um Ostern herum die Natur erwacht und sich erneuert: Glockenblumen. Jungtiere auf den Weiden, staksige Beine, samtenes Fell. An dieser Pracht kann, will ich mich erfreuen, auch wenn wir mehr und mehr alarmiert auf die Natur schauen, schauen müssen. Die Natur wird uns kaum retten. Im Gegenteil: Wenn wir nicht anfangen umzusteuern, wird die Aussicht für unsere Schöpfung immer schlechter.
Diese Welt braucht, was sie nicht selbst machen kann: Gottes Neuwerden im Tod, Gottes Aufrichten in der Niedergeschlagenheit. Gottes Retten, wo Du Wände und Verschlossenheit siehst. Dass Dir und mir das kaum glaubwürdig erscheint, dass Menschen das im Grunde nicht glauben können, das war von Anfang so, im ersten Osterfest so wie auch dieses Jahr. Nun, Ostern hängt nicht daran, ob Du oder ich es glaube. Gott tut es für uns. Es ist, als ob die Tür aufgeht und Licht dringt durch den Türspalt, anfangs nur ein wenig, dann immer mehr. Und Du hast die Tür nicht aufgemacht. Da kommst Du nicht drauf, nicht mal, dass da eine Tür war. Frohe Ostern wünsche ich Ihnen.
Es macht unser Menschsein aus, zurück blicken zu können. Wir können für Gelungenes danken. Und, auch das macht unser Menschsein aus, wir können Fehler eingestehen.
Vor genau drei Jahren begann der erste Lockdown in der hinter uns liegenden Corona-Pandemie. Allein, dass ich das so schreiben kann: Die Pandemie liegt hinter uns, ist für mich ein Grund zu danken. Aus Corona ist eine Viruserkrankung geworden, mit der wir wie mit anderen Infektionen umzugehen gelernt haben. Dazu hat in herausragender Weise die medizinische Forschung beigetragen. Ohne Impfung wäre die Sterblichkeit hoch, säßen wir möglicherweise noch immer in wiederkehrenden Lockdowns. Also, wir haben allen Grund zu danken – was für mich stets heißt: auch Gott, dem Schöpfer, danken. Dass wir leben, ist keine Frage nur unseres Tuns und Machens. Auch das hat uns die Zeit des Virus neu gelehrt.
Es war wahrlich nicht alles richtig, was an Maßnahmen getroffen wurde. Wie sollte es! Für uns alle, auch für die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft, war es die erste Pandemie. Unbekannt also und von viel Angst durchzogen. Krankheit macht Angst. Das sollten wir nicht vergessen, wenn wir jetzt aufarbeiten, was falsch gelaufen ist. Schulen und Kindergärten zu schließen, war ein Fehler. Das wissen wir heute. Und das ist bitter, denn es hat unsere Kinder getroffen. Es braucht auch weiterhin noch große Achtsamkeit. Auf Hysterie sollte nicht Sorglosigkeit folgen, auch diesen Fehler haben wir ja erlebt in den Pandemiejahren. Es macht uns Menschen aus, dass wir im Rückblick darüber reden können, dass wir Brüche aushalten und Fehler anerkennen können. Und dass wir dabei deutlich, aber auch barmherzig sind. So, sagt die Bibel, hat uns Gott geschaffen: nach seinem Bilde ehrlich und barmherzig.
Es gibt etwas, was mich sehr sorgt: Wir haben für die Pflegerinnen und Pfleger im ersten Lockdown geklatscht. Weil wir begriffen hatten, wie wichtig es ist, dass Menschen für die Schwächsten in unserer Gesellschaft da sind. Aber haben wir etwas geändert? Hat die Anerkennung zu Veränderungen geführt etwa in der Bezahlung? Wir haben noch viel zu lernen. Es ist an der Zeit, damit anzufangen.
Das vierte der zehn Gebote aus der Bibel lautet: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass dir’s wohlgehe und du lange lebest auf Erden. – Es ist ein gerade auch für unsere heutige, moderne Gesellschaft sehr wichtiges Gebot, denn es mahnt und erinnert uns, wie wir mit älteren Menschen umgehen; es zeigt, wie es um unser Menschsein bestellt ist. Pflegenotstand, Fachkräftemangel in der Altenhilfe, das sagt nichts Gutes über uns.
Das vierte Gebot ist elementar wichtig für uns alle. Wir erleben es gerade in Berlin-Wedding. Ein kirchlich-diakonisches Seniorenstift wird geschlossen, ältere Menschen müssen ausziehen und noch einmal woanders neu anfangen. Wir sehen ihren Schmerz. Ich frage mich sofort, wie das hätte verhindert werden können. So geht es uns wohl allen. Ob bei allen äußeren Faktoren der Entscheidung nicht eine andere Lösung hätte gefunden werden können, ja müssen. So geht es zweifellos auch den Mitarbeitenden in der Diakonie und im Stift selbst. Niemand arbeitet dort, der nicht ein Herz für ältere Menschen hat. Die Menschen, die schon ausgezogen sind oder noch ausziehen müssen werden unterstützt. Keiner und keine wird allein gelassen. Das ist entscheidend. Es ist ein Wesenskern diakonischer und kirchlicher Arbeit, dass die Alten und Schwachen bei uns Schutz erfahren. Und wir spüren, bei allen Bemühungen zu helfen, auch den Verlust von Vertrauen. Ich bin mir sicher, dass das aufgearbeitet wird von den Beteiligten, gerade weil es so schmerzhaft für alle ist. Wo Vertrauen zerstört wurde, kann ich mich nur entschuldigen.
In den Überschriften der letzten Woche wurde oft der Eindruck erweckt, dass nun statt der Senioren und Seniorinnen Geflüchteten geholfen werden soll. Wir sollten niemals Not gegen Not aufrechnen oder gar gegeneinander stellen. Es macht unsere Gesellschaft aus, dass wir für beides sorgen können: Hilfe für Ältere und Hilfe für Geflüchtete. In der Diakonie engagieren sich nur Menschen, die jedem helfen, der Unterstützung braucht, ohne Unterschied. Nächstenliebe lässt sich nicht aufteilen. Mancher spricht deshalb auch von einem elften Gebot – und das lautet: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
Mit dem gestrigen Aschermittwoch hat die Passionszeit begonnen. Christinnen und Christen erinnern an das Leiden Jesu. In den sieben Wochen bis Ostern treten wir ein in das Gedenken an Gottes Sohn, der im Mitleiden mit uns, den Menschen zum Freund geworden ist.
Der Beginn der Passionszeit fällt in dieser Woche mit dem Jahrestag des Krieges gegen die Ukraine zusammen. Das Leiden, das damit für das von Putin angegriffene Volk der Ukraine verbunden ist, ist unermesslich groß. Gerade deshalb dürfen wir es nicht verdrängen. Der anhaltende Bombenhagel, der die Menschen Tag und Nacht aus ihrem Leben vertreibt. Die Zerstörung der Infrastruktur, die den Alltag dunkel und kalt macht. Die Vernichtungen von Land und Stadt – bis Mariupol und andere Orte zu Geisterstädten geworden sind. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Vergewaltigungen, die Kriegsverbrechen, die ungezählten Toten.
Wir trauern mit, wir klagen das Leid, wir weinen und beten, dass Gott es sehe und höre. Und wir flehen, dass die Menschen in ihrem Leid nicht allein, die vielen Opfer nicht verloren sein werden. Das meint Passionszeit: Wir schauen auf das Leid und bringen es vor Gott. Am heutigen Donnerstagabend laden wir zu einer Nacht der Klage und des Betens in die Marienkirche am Alexanderplatz ein, gemeinsam mit der katholischen und der orthodoxen Kirche. Das Gebet eint uns, gerade auch da, wo wir untereinander verschiedene Positionen haben. Ob ja oder nein zu Waffenlieferungen – das Gebet und der Ruf zu Gott verbinden uns.
Was mir derzeit Mut macht: In nahezu allen Diskussionen rückt mit dem Jahrestag auch die Frage nach Wegen zur Beendigung des Krieges nach vorne. Immer drängender wird die Perspektive, dass es ein Ende haben muss. Ein Ende, das, wie auch immer es verhandelt wird, nicht auf Kosten der Freiheit, der Souveränität und des Rechts der Ukraine gehen kann. Das muss ganz klar sein.
Seit einem Jahr beten wir laut für Frieden in unseren Kirchen. Auch die Passionszeit wird davon bestimmt sein. Laute Gebete. Sieben Wochen Passion erinnern daran, dass Gott in Jesus bei den Leidenden ist, das Leid mitträgt. Und für uns überwindet.
Nun also Kampfpanzer. Das lässt mich, das lässt uns schwer schlucken. Es ist historisch mehr als bedrückend, dass wir acht Jahrzehnte später wieder Panzer geben, mit denen in diesem Teil Europas angegriffen werden kann. Das habe ich mir lange nicht vorstellen können. Aber so vieles, was seit fast einem Jahr der Ukraine widerfährt an furchtbarem Vernichtungskrieg, haben wir uns nicht vorstellen können. Historische Zwangslage also in der Verteidigung der Ukraine. Schwer schlucken tun wir und müssen wir trotzdem.
Es ist auch religiös, christlich, biblisch mehr als bedrückend. Es ist wirklich zum Verzweifeln. Die Bibel erinnert uns daran, Jesus Christus predigt uns, dass wir ohne Waffen Frieden schaffen wollen, dass die christliche Grundhaltung in Friedensliebe und Selbstrücknahme besteht. Christlich muss man an dieser Situation verzweifeln. Denn dennoch gilt ja: es ist auch ganz und gar nicht christlich, andere Menschen sich und ihren Angreifern zu überlassen. Es ist ganz und gar nicht christlich zuzuschauen, wenn ein Land vernichtet werden soll. Wer hier zuschaut, muss auch sagen können, warum. Und was er den Menschen dort antut. Deshalb liefern die europäischen Länder Waffen. Und deshalb ertrage ich, dass sie Waffen liefern, ja halte das bei aller Verzweiflung und bei aller Bedrückung für nicht falsch. Vielleicht muss man es so zusammenfassen: Sehr schwer erträglich. Auch in christlicher Ethik überaus bedrückend, aber womöglich nicht falsch.
Was würde Jesus dazu sagen, ist die Überschrift dieser Kolumne. Ich frage mich das in diesen Monaten immer wieder. Natürlich weiß ich es nicht. Ich denke aber, er würde auch sagen: Ja, in diesem Leben gibt es Momente und Entscheidungen, die schwer auszuhalten sind. In denen viel Verzweiflung mitschwingt. Der wir uns stellen müssen und die wir vor Gott tragen dürfen. Genauso unsere Bitte um Frieden. Auch die dürfen und sollen wir immer wieder vor Gott tragen. Dass er uns den rechten Weg zeige. Den Weg des Friedens. Und seinen Frieden bringe, der eines Tages ein Frieden ohne Waffen sein wird. Dann rufe ich Halleluja. Eines Tages. Bis dahin aber müssen wir unsere Verantwortung tragen, unsere Verzweiflung und Bedrückung aushalten. Und Menschen helfen und beistehen.
Vorgestern, am Dienstag, haben wir mit und für die Menschen in Feuerwehr, Polizei und Rettungsdienst in der St. Marien-Kirche Andacht gehalten. Es war mir ein Anliegen, deutlich zu sagen: wir sehen Euch, die ihr eure Kraft und euren Einsatz für Hilfe und Schutz gebt. Wir lassen Euch angesichts der Gewalt nicht allein. Es ist ja durch und durch widersinnig, dass Menschen, die Leben stärken und retten, angegriffen werden. Was wir Silvester erlebt haben, bestürzt mich und muss uns als Gesellschaft nachhaltig ins Denken bringen. Was ist mit der Seele unserer Stadt, unserem Land? Was löst diese Gewalt aus? Welche Ängste stehen dahinter? Die vorschnellen Antworten, das Lautmachen von Vorurteilen und angeblich einfachen Lösungen wird uns nicht weiter bringen. Es macht uns aus, dass wir differenziert schauen, dass wir uns den Blick in die Gesichter der Menschen nicht verstellen lassen. Wir brauchen eine ehrliche Debatte, ohne Scheuklappen. Und wir dürfen eben die Menschen, die dem gegenüber stehen – Einsatzkräfte, aber auch Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer, Sozialarbeiterinnen und –arbeiter nicht allein lassen. Hören wir sie. Sehen wir sie. Die Losung, also das biblische Leitwort über diesem noch jungen Jahr 2023, lautet: Du bist ein Gott, der mich sieht. Wie passend, denke ich. Und versuche genau hinzuhören. Du. Mich. Gott sieht also auf die unverwechselbar Einzelnen, die Individuen. Gott sieht die Seele von dir und mir. Gott fragt und sucht, was wir brauchen, damit wir in Frieden miteinander leben können. Dazu gehört als erstes: dass wir uns sehen. Dass wir nicht über den anderen hinwegsehen. Dass wir Respekt füreinander haben. Respekt ist ein Wort aus dem Lateinischen, wörtlich übersetzt heißt es: Rückschauen. Ansehen. Gewalt nimmt Menschen auf schreckliche Weise ihr Ansehen. Die Andacht vorgestern in der Marienkirche hat den Menschen, die in der Silvesternacht angegriffen worden sind, den Respekt gegeben, der ihnen gebührt. Und er hat uns alle daran erinnert: Gott gibt uns Respekt. Er sieht uns an, dich und mich. Jeden und jede. Sein Respekt möge auch unseren Blick leiten in diesem Jahr.