27.07.2022
Interview mit Pfarrer Dr. Patrick Roger Schnabel
Das ökumenische Siegel „Faire Gemeinde“ ist eine Auszeichnung für Kirchgemeinden, Einrichtungen und Werke, die sich durch Handeln und Öffentlichkeitsarbeit für Nachhaltigkeit und globale Gerechtigkeit einsetzen. Das soll für die Kirchgemeinden und darüber hinaus ein Zeichen für einen verantwortungsbewussten Glauben sein. Das Siegel wird vom Kirchlichen Entwicklungsdienst der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesischen Oberlausitz, dem Diözesanrat der Katholiken im Erzbistum Berlin und dem Ökumenischen Rat Berlin-Brandenburg vergeben.
Interview zum Thema „Faire Gemeinde“ mit Pfr. Dr. Patrick Roger Schnabel, Leiter der Abteilung Kommunikation und Kooperation, Beauftragter für den Kirchlichen Entwicklungsdienst und Menschenrechte
ekbo.de: Seit 2016 können Gemeinden, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen, das Siegel „Faire Gemeinde“ oder „Fairer Kirchenkreis“ erhalten. Was hat Sie damals bewogen, dieses Siegel zu entwickeln?
Pfr. Dr. Schnabel: Im Jahr 2016 haben wir das Themenjahr „Reformation und die Eine Welt“ in der Dekade vor dem großen Jubiläum 2017 gefeiert. Denn von Wittenberg aus ist die evangelische Deutung des christlichen Glaubens in der ganzen Welt verbreitet worden. Von unseren Glaubensgeschwistern besonders im Globalen Süden trennen uns aber scheinbar (Lebens)Welten, weil wir uns unsere vielen Verbindungen und leider auch die ungerechten Verstrickungen im Weltwirtschaftssystem viel zu selten bewusst machen. Aber die Hebel liegen doch meist bei uns, um etwa Menschenrechte entlang von Lieferketten umzusetzen oder auch die Ursachen für den Klimawandel zu beseitigen, der die Südhalbkugel schon viel länger und viel stärker betrifft als uns. Gleichzeitig gab und gibt es viel Engagement an der Basis. Das zu sehen, zu würdigen und zu stärken ist das Ziel des Siegels. Es ist so konzipiert, Nachhaltigkeit im Sinne des Weltzukunftsvertrags von 2015 – den UN-Zielen für Nachhaltige Entwicklung – in den kirchlichen Alltag zu integrieren: Fairer Handel, umwelt- und klimagerechtes Wirtschaften, soziales Denken und Handeln vor Ort und in weltweiter Solidarität sind die vier Säulen des Siegels. Gemeinden können Schwerpunkte setzen, müssen aber in allen vier Bereichen Aktivitäten nachweisen, um das Siegel zu erhalten.
ekbo.de: Und was haben die Gemeinden davon? Verändert es sie? Wie sind da Ihre Erfahrungen?
Pfr. Dr. Schnabel: Das Siegel will zunächst Engagement würdigen, das vorhanden ist. Aber es will es damit auch aus der Nische holen und ordentlich „ankurbeln“. Die Auszeichnung markiert also keinen Schlusspunkt, sondern eine wichtige Wegmarke: Mit ihm werden die vielen kleinen Ansätze bewusst gemacht, gebündelt und gestärkt. Das merkt man in den Gemeinden. Sie erkennen, wie viel Gutes sie schon bewirken, aber sehen auch den ungeheuren Bedarf, christliche Welt- und Schöpfungsverantwortung mit Leben zu füllen. So wird ein Prozess in Gang gesetzt, der im besten Fall auch ein Gemeindeentwicklungsprogramm ist. Menschen, die angesichts der vielen globalen Herausforderungen und Krisen etwas tun wollen, finden in der Gemeinde Gleichgesinnte. Es zeigt sich, dass auch kleine Schritte helfen – was psychologisch wichtig ist, weil die Menschheitsherausforderungen so groß sind, dass sie leicht entmutigen können. Von den „Basis-Gruppen“, die es immer schon gab, strahlt die Arbeit in die ganze Gemeinde und dann darüber hinaus in Kiez oder Dorf. Kirche hilft so mit, Sozialräume auf die notwendige große, sozial-ökologische Transformation unserer Gesellschaft einzustellen. Man kann nicht die abstrakte „Gesellschaft“ als ganze verändern, sondern muss in den überschaubaren Gemeinschaften vor Ort beginnen – und dann auf den Schneeballeffekt vertrauen.
ekbo.de: Seit 2019 ist das Siegel ökumenisch. Verlangsamt es nicht auch Prozesse, wenn man so viele unterschiedliche Gemeinden ins Boot holen will?
Pfr. Dr. Schnabel: Das Siegel steht allen Mitgliedkirchen im Ökumenischen Rat Berlin-Brandenburg (ÖRBB) offen. In dieser breiten ökumenischen Gemeinschaft haben wir ganz unterschiedliche Voraussetzungen. Das muss man in der Vergabepraxis des Siegels berücksichtigen. Wenn etwa eine Gemeinde aus unserer Landeskirche künftig nur Dinge anbieten wollte, die sie durch unsere synodalen Vorgaben in kirchlichen Klima- und Umweltgesetzen ohnehin tun muss, wäre das kein besonderes Engagement und müsste durch andere Angebote kompensiert werden. Das klären wir im Beratungsprozess auf dem Weg zur Siegelverleihung. Aber viele andere Gemeinden – auch unsere katholischen Geschwister – haben diesen Standard noch lange nicht erreicht. Die müssen wir abholen und mitnehmen, wo sie gerade stehen. Vielleicht erleben wir dann auch in der Ökumene, was bei uns ja funktioniert hat: Einzelne Aktive in einigen Gemeinden fangen an – und am Ende bewegt sich eine ganze Kirche! Da können wir in ökumenischer Solidarität Wegbegleiter sein, gerade weil wir in dem Punkt vielleicht schon ein bisschen weiter sind als andere. Aber nicht aus einer Position der Überlegenheit heraus: Denn auch bei uns, seien wir ehrlich, muss und kann immer noch mehr getan werden, als wir vorschreiben können und wollen.
ekbo.de: Die Klimakatastrophe hat ja seit 2016 noch mal ganz andere Ausmaße angenommen und zeigt sich inzwischen deutlich im Alltag, bei uns und weltweit. Müsste man jetzt nicht viel stärkerer Maßnahmen ergreifen als es das Siegel „Faire Gemeinde“ vorsieht?
Pfr. Dr. Schnabel: Wohin uns unser gegenwärtiges, lebensfeindliches Wirtschaften führt, ist im Großen und Ganzen spätestens seit den frühen 1970er Jahren öffentlich bekannt. Wir haben es nur verdrängt. Inzwischen treffen die Folgen aber nicht nur mehr „den Süden“, sondern sind auch bei uns spürbar. Die junge Generation fürchtet – völlig zu Recht – um ihre Zukunftschancen. Der Druck, den die neuen sozialen Bewegungen deshalb ausüben, erreicht nun endlich auch die Entscheidungsebenen in Gesellschaft und Politik. Es ist also eher eine veränderte Wahrnehmung als eine veränderte Ausgangslage. Deshalb glaube ich, dass der Ansatz richtig bleibt, einen Prozess anzustoßen, der dann eine Eigendynamik entwickelt. Wenn die Kriterien aber gleich so hoch sind, dass Gemeinden (die ja auch noch viele andere Herausforderungen zu bewältigen haben) gleich ganz erheblichen Mehraufwand fürchten und dadurch abgeschreckt sind, nehmen wir uns die Chance auf Breitenwirkung. Wir laden ein, zu entdecken, was schon da ist und was auf der Basis noch möglich ist. Das motiviert viel mehr!