07.10.2024
Ein Wort für die Gemeinden zur Orientierung und für die Öffentlichkeit zur Information (Text: Matthias Loerbroks, redigiert von Teja Begrich und Manon Althaus)
I Sie sagen: Los, wir vernichten sie, dass sie kein Volk mehr sind, des Namens Israel nicht mehr gedacht werde. Psalm 83,5
Vor einem Jahr wurde Israel überfallen. 1.200 Menschen wurden ermordet – das ist an keinem anderen Tag nach 1945 geschehen; 250 wurden verschleppt, darunter viele Kinder und Hochbetagte – viele sind noch immer gefangen; ihre Familien und Freunde bangen um ihr Leben; Frauen wurden vergewaltigt und als Trophäen präsentiert; Menschen wurden lebendig verbrannt; Kinder, Säuglinge vor den Augen ihrer Eltern geköpft, Eltern vor den Augen ihrer Kinder ermordet; Besucher eines Musikfestivals wurden stundenlang gejagt, Hunderte erschossen. Die Taten zeigen den Wunsch, das jüdische Volk zu vernichten, und die Bereitschaft, alles zu tun, um dieses Ziel zu erreichen. Die Täter haben ihre Euphorie, ihren Blutrausch stolz dokumentiert. Der 7. Oktober 2023 ist ein tiefer Einschnitt im Leben von Jüdinnen und Juden – nicht nur in Israel, sondern in aller Welt: Der Staat, zu dessen Selbstverständnis gehört, Juden vor Verfolgung und Pogromen zu schützen, hat das Massaker nicht verhindert; es kann wieder geschehen. Schon zuvor war jüdisches Leben in Israel von Mordanschlägen bedroht und betroffen. Doch die Taten am 7. Oktober waren von anderer Qualität.
Jüdinnen und Juden in fast allen Ländern werden seit dem 7. Oktober von einer Flut der Feindschaft überrollt, sind bedroht und Angriffen ausgesetzt wie nie zuvor seit 1945 – als wäre ein Deckel geöffnet worden, strömt nun alles hervor, was zuvor im Verborgenen gebrodelt hatte. Und Israel ist für Viele von ihnen nicht mehr der Ort, zu dem sie im Notfall fliehen können.
Wir schützen jüdisches Leben – das ist ein großes, vielleicht zu großes Wort. Doch es signalisiert, wie bedroht dieses Leben ist; wie prekär und fragil es ist, ein Jude, eine Jüdin zu sein. Das geht uns unbedingt an.
II Wer euch antastet, tastet meinen Augapfel an. Sacharja 2,12
Der Krieg in Gaza ist schauerlich. Wir beklagen die vielen Toten, die Verletzten an Leib und Seele, die Not, die Trauer, die Angst der Menschen dort. Doch der Krieg erklärt nicht das Ausmaß des Hasses hier und in aller Welt. Zumal kaum einer der Proteste ohne antisemitische Klischees auskommt und ohne Angriffe auf Juden; viele der Protestierer wenig oder nichts über den Nahen und Mittleren Osten wissen und wissen wollen; sie an keiner Lösung des komplizierten Konflikts interessiert zu sein scheinen, außer an der Endlösung: dass es zwischen Jordan und Mittelmeer keine Jüdinnen und Juden gibt; kein Blutvergießen auf der ganzen Welt auch nur annähernd ähnlich vehemente Proteste bewirkt. Der Wunsch, dass Israel schuld ist; die Lust daran, Jüdinnen und Juden zu hassen, scheint größer zu sein, als die Empathie mit den Opfern des Kriegs.
Wer Jüdinnen und Juden angreift, weil sie Juden sind, greift Gott an – den Gott Abrahams, Isaaks und Jakob-Israels und aller ihrer Nachkommen. Und wer sich von Jüdinnen und Juden abgrenzen will, soll von Gott nicht reden. Christinnen und Christen können und sollten das wissen. Sie haben es freilich jahrhundertelang nicht wissen wollen, sondern haben Juden verächtlich gemacht. Die christliche Mission hat Zerrbilder, Feindbilder von Juden auch in Ländern verbreitet, in denen es keine oder nur wenige Juden gibt. Viel vom Stoff, viele der Klischees auch des nichtreligiösen, auch des islamischen Judenhasses stammen aus dem Arsenal der christlichen Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden. Die Scham darüber darf Christinnen und Christen nicht stumm machen, sondern drängt sie zu tätiger Umkehr, wozu gehört, den Hassern zu widersprechen und zu widerstehen.
Christen glauben, dass der Gott Israels sein Volk besucht hat, um es zu befreien von seinen Feinden und aus der Hand aller seiner Hasser (Lukas 1,71). Sie sollten darum versuchen, ihm dabei zu helfen.
III Da die Missachtung der Tora überhandnehmen wird, wird die Liebe von Vielen erkalten. Matthäus 24,12
Die Schrecken des Krieges erklären auch nicht die Kälte, die Jüdinnen und Juden hier in Deutschland erleben. Sie fühlen sich nicht nur bedroht, sondern in dieser Situation allein und im Stich gelassen, gemieden und von betretenem Schweigen umgeben. Als wären ihr Schmerz und ihre Angst eine ansteckende Krankheit. In der Grundordnung unserer Kirche wird als ein Wesensmerkmal der Kirche genannt: Sie weiß sich verpflichtet zur Anteilnahme am Weg des jüdischen Volkes. Da ist nicht von interreligiösem, von jüdisch-christlichem Dialog die Rede, überhaupt nicht von Religion, sondern von Weggemeinschaft: Verlässlichkeit, Freundschaft, Beistand.
Wir erinnern alle Gemeinden an diese Mission der Kirche und bitten sie, ihr zu entsprechen, sie zu verwirklichen: Kontakte zu knüpfen und zu halten, Besuche zu machen, sich zu melden – Anteil zu nehmen.