08.01.2021
Gedanken von Pröpstin Christina-Maria Bammel
Vieles wird gut werden, besser wahrscheinlich. Infektionen werden weniger, je mehr Menschen geimpft sein werden. Nach einem Jahr der Gefahr nun ein weniger gefährliches Jahr? Wohl nicht. Ich halte es zum Beispiel für gefährlich, wenn uns die Beweglichkeit, in den vergangenen Monaten gelernt, einfach wieder wegschlummert. Aber es gibt eine viel größere Gefahr, die wirklich zu schaffen macht: Die unsäglichen aktuellen Formen von Feindschaft gegenüber Juden und Jüdinnen. Seit 1700 Jahren leben sie nachweislich auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands. Das wird mit vielen hundert Projekten, Vorhaben und Festveranstaltungen in diesem Jahr sichtbar gemacht werden. Das Blühen einer ganzen Glaubensgemeinschaft, aber auch die verfolgungsbedingten Brüche in unzähligen Familiengeschichten, die mehr als ein Jahrtausend zur Minderheit gehörten, die menschengemachte barbarische Katastrophe im 20. Jahrhundert, die Shoa. Ein unfassbar heilloser Riss.
Heute lässt sich ein vielseitiges und vielstimmiges jüdisches Leben erfahren. Dieses Jahr erzählt davon in besonderer Weise. Doch die Gefahr bleibt trotz Festjahr: Antisemitismus. Das ist der Skandal: Wenn Männer davor zurückschrecken, eine Kippa auf bestimmten Straßen bestimmter Städte zu tragen, wenn Kinder Schulalltag mit Polizeischutz erleben müssen, wenn sich israelische Studentinnen dreimal überlegen, ob sie es wirklich riskieren wollen, in Deutschland zu studieren. Im Schnitt gibt es mehr als zwei registrierte antisemitische Vorfälle täglich. Das war im vergangenen Jahr die Berliner Realität. Geschah im Netz, in „zoombombings“ oder auf der Straße; Konzerte wurden bedroht, Massenmails, deren Inhalt einen nur würgen lässt, wurden verschickt. Ständig mutiert das Virus diese antisemitischen Ressentiments, passt sich an. Daher braucht das Festjahr „1700 Jahres jüdisches Leben“ Festigkeit, Standfestigkeit und Rückenwind, viele Multiplikatoren, die mitmachen, lernen und sich auf neue Entdeckungen mit Blick auf jüdische Geschichte und Gegenwart einlassen. Wir sind da alle gefragt und gefordert! In diesem Land gibt es viele, die darüber hinaus besonders beauftragt sind mit dem Kampf gegen Antisemitismus. Solange die Gefahr ist, wie sie ist, braucht es solche besondere Beauftragung auch in unserer Landeskirche. Möglichst bald. Ohne dass auch nur einer von uns persönlich aus der Verantwortung entlassen wäre.