06.09.2024
Von Pröpstin Christina-Maria Bammel
Es gibt Momente, die legen sich für Jahrzehnte in eine Ecke des Gedächtnisses, von woher sie immer mal aufleuchten. Für mich gehört dazu ein Morgenmoment kurz vor 8 Uhr, September 1989 in dem lausigen Treppenhaus des EOS-Schulgebäudes. In den morgendlichen Trott hinein meinte einer: „Habt ihr schon gehört? Da ist ein neues Forum oder so im Kommen. Ein Aufruf gegen die Regierung.“ Von weiter oben hörte ich jemanden antworten: „Mein Vater hat gesagt, wozu braucht man sowas?“ Ich weiß noch oder meine in der Erinnerung zu wissen, wie ein Knistern in der Luft dieses Augenblickes lag. Gleich würden wir im Klassenzimmer ankommen, wo übrigens ein Platz nach den Sommerferien leer geblieben war – nicht zurückgekommen aus Ungarn. In unserem Land ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört, beginnt der Aufruf, eine politische Plattform zu bilden für Dialog, gemeinsam, im ganzen Land. Gemeint war die DDR. Die Gründung des Neuen Forums September 1989 ist 35 Jahre her. Das ist noch kein historischer Graben, aber eben doch etwas weiter weg als das, was gestern war.
Der am häufigsten zitierte und auch am meisten erinnerte Satz des Septemberaufrufs 1989: Die Zeit ist reif! Sie war überreif für ein Ende der Bevormundung, für eine Umkehr aller Wachgewordenen, sozial und ökologisch. Jetzt in den kommenden Wochen des Erinnerns sollte auch Raum dafür sein, was seit 1989 im Grunde an Gutem erfahren und auf denkbar gute Weise verändert wurde, leichter geworden ist, nicht um die Debatte um die ungleich vereinten Teile Deutschlands zu beschwichtigen! Nicht, um Ressentiments oder wirtschaftlichen Schieflagen nach traumatisierenden Umbrucherfahrungen für viele Ostdeutsche weg zu säuseln! Aber, um wieder ein Maß für das zu finden, was echt Empörung und Aufstehenergie verdient - und was nicht. Die zwei Schreibmaschinenseiten Aufruf waren nicht vom Himmel gefallen; alles hart errungen. Davon erzählen Viele, deren Unzufriedenheit von Jahr zu Jahr zugenommen hatte, weil sie selbstbestimmter atmen, reden, leben wollten.
Mich bewegt es sehr, dass landauf und landab in der DDR Menschen aktiv wurden, die für den steinigen Weg der kleinen erkämpften Freiheiten und der dann bahnbrechenden demokratischen Freiheit einen Impulsgeber in einem Mann gefunden hatten, der nur ein einziges Mal für wenige Stunden den Boden dieses Landes betreten konnte. Aber tief prägend sollte die Spur bei denen sein, die ihn getroffen hatten. Ich meine Martin Luther Kings Septemberbesuch, 25 Jahre vor der Friedlichen Revolution. Was hatte er im Gepäck? Ein Traum von Freiheit in Würde und Gerechtigkeit. Für Christen hinter dem Eisernen Vorhang unglaublich ermutigend!
An Dr. Kings Besuch vor 60 Jahren vor allem in der Berliner Marien- und Sophienkirche wird in den kommenden Tagen erinnert. Mit Musik, Podien, Gottesdienst und Ausstellungen, mit einem neuen Buch des Theologen Michael Haspel über Martin Luther King (Unbedingt lesenswert!: „Wer nicht liebt, steht vor dem Nichts“).
Geschichte geschieht in Bögen, die Träume und Hoffnungen verbinden, etwas Besseres entstehen lassen auch in den Herbstimmungen einer Gesellschaft. Für mich verbindet sich dies gerade zwischen manch extremdunkler Nachrichtenmeldung zu einem großen Dennoch, wie zu einem hoffnungssatten Septemberleuchten 2024. Das gehört weitergereicht.
Information: https://marienkirche-berlin.de/martin-luther-king-days-2024/