"Mein Herz und meine Seele schmerzen"

21.03.2022

Holocaust-Überlebende Gulej aus Kiew muss erneut einen Krieg erleben

Anastasia Gulej hat die Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und Bergen-Belsen überlebt. Jetzt musste die 96-Jährige erneut einen Krieg hautnah miterleben und aus ihrer Heimatstadt Kiew fliehen. Inzwischen ist sie in Deutschland in Sicherheit.

Bergen-Belsen, Naumburg (epd). Sie wollte nicht weg aus der Ukraine, dachte außerdem, dass sie es aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr nach Deutschland schafft. „Mein Herz und meine Seele schmerzen“, sagt Anastasia Gulej. Auch die Beine machen nicht mehr mit, die 96-Jährige kann nur am Stock gehen. Doch nach Nächten im Keller überredeten sie Freunde, das Land zu verlassen. Zusammen mit ihrer Tochter Walentyna, ihrem Sohn Wassyl und ihrer Katze.

Im Juni 1941 griffen deutsche Truppen von Westen her die Sowjetunion, ihre Heimat Ukraine an. Mehr als 80 Jahre später geht der Angriff vom Osten, von Russland aus. Seit Jahren ist Anastasia Gulej als Zeitzeugin in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt unterwegs. Einschüchtern lässt sie sich nicht: „Nie wieder!“, sage ich immer bei meinen Zeitzeugengesprächen - „Ich werde es lauter sagen, damit es auch in Russland gehört wird.“

Ihre Geschichte erzählte sie unter anderem bei der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen. Wie sie mit einem Frauentransport politischer Häftlinge aus dem KZ Auschwitz im Januar 1945 nach Bergen-Belsen kam - und hoffte, dort könne es nicht mehr schlimmer werden. Doch sie hatte sich getäuscht. „Zu gern möchte man dieses Grauen einfach verdrängen, alles vergessen, wenigstens Szenen wie diese: Nachts sagt jemand, 'Marussja, rutsch mal ein Stück. Ach, Du bist ja schon tot.'“

Auch jetzt kommt das Grauen wieder hoch: „Als ich im Lager Bergen-Belsen gefangen war, haben wir gemeinsam zu überleben versucht, Ukrainer und Russen“, berichtet Gulej in einer von einer Dolmetscherin übersetzten Mail. „Wir waren befreundet, wir sangen gemeinsam Lieder. Wir teilten uns die letzten Steckrüben. Und nun ist Krieg, nicht nur im Donbass. Russland kämpft gegen uns. Putin greift die gesamte Ukraine an. Mir fehlen die Worte.“

Dass Anastasia Gulej seit wenigen Tagen in Deutschland ist, verdankt sie unter anderem Maik Reichel. Der Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt arbeitet seit langem mit ihr als Zeitzeugin zusammen und ist mit ihr befreundet. Er hat auch ihre Biografie geschrieben, die eigentlich in diesem Monat erscheinen sollte. Jetzt muss sie um ein weiteres Kapitel ergänzt werden. „Ich bin dafür fast jeden Monat bei ihr in Kiew gewesen, zuletzt haben wir wegen der Pandemie per Videokonferenz an dem Buch gearbeitet“, sagt Reichel im Telefoninterview.

Er gehörte zu denen, die der 96-Jährigen immer wieder Hilfe bei der Ausreise anboten. Doch stattdessen verschanzte sie sich mit ihrer Tochter Walentyna im Keller. Die Kartoffeln und andere Lebensmittel räumten sie weg, Walentyna und eine Mitbewohnerin brachten Matratzen und Decken. Über eine Holzleiter durch eine schmale Öffnung ging es hinab. „Das habe ich einmal gemacht, nie wieder. Es ist zu anstrengend für mich“, sagt Gulej. Im Keller war es sehr kalt, aber zunächst sicher: „Wir hörten keinen Gefechtslärm, nur das leise Vibrieren des Bodens.“

Als sie wieder herauskamen, sahen sie eine Rakete fliegen. Ihr Haus liegt direkt neben dem Flughafen Shuljany - ein bevorzugtes militärisches Ziel. Das war der Moment, als sie entschied, ihren Sohn Wassyl anzurufen. Mit seinem alten Mercedes fuhren sie nach Ende der Sperrstunde los, die ganze Nacht hindurch. Sie wollten nach Lwiw (Lemberg) in der Westukraine - das Land verlassen wollten sie nicht. Doch viele Freunde redeten auf sie ein. Und Maik Reichel schuf Fakten: Er teilte ihr mit, dass er am Abend des 8. März am polnisch-ukrainischen Grenzübergang Budomierz auf sie warten werde. „Das hat sie dann offenbar doch beeindruckt“, sagt Reichel. „Anastasia ist eine willensstarke Frau mit einer charmanten Sturheit.“

Auf der ukrainischen Seite mussten die 96-Jährige, ihre Tochter und ihr Sohn 15 Stunden warten. Dann durften sie ausreisen. Wehrfähige Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen ihr Land nicht verlassen, Wassyl ist 68. In Polen wartete Reichel bereits mit einem VW-Bus, den ihm die AWO Weißenfels kostenlos zur Verfügung gestellt hatte. Die Familie wohnt nun in einer Ferienwohnung bei Naumburg, die Miete übernimmt der Burgenlandkreis. In wenigen Tagen wird Anastasia Gulej stationär in eine Kurklinik aufgenommen, die Kosten für den Aufenthalt übernimmt die Klinik.

Doch der Krieg wird sie nicht loslassen. Sie denkt an ihre Tochter Olga, die noch immer in Sumy im Nordosten der Ukraine ist, zusammen mit Gulejs drei Enkeln. Sie hat am Mittwoch erfahren, dass das Nachbarhaus ihres Bruders zerstört wurde. Sie verfolgt die Nachrichten. Sie telefoniert mehrmals am Tag und versucht, den Kontakt zu halten. Sobald es geht, will sie zurück. Einer Freundin übermittelte sie die Nachricht: „Ich habe Hitler überlebt, Stalin überlebt und dieses Arschloch Putin werde ich auch überleben!“ Der Spruch wurde in der Tageszeitung „taz“ abgedruckt und verbreitet sich seitdem in den sozialen Netzwerken.

Von Lothar Veit (epd)

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