„Singen kann ein hohes Ansteckungsrisiko bergen“

15.05.2020

Tobias Brommann, Kantor des Berliner Domes, hat mit seinem Chor üble Erfahrungen mit dem Virus gemacht. Im Interview mit ekbo.de erzählt er, was jetzt zu beachten ist.

Domkantor Tobias Brommann, Foto: Boris StreubelDomkantor Tobias Brommann, Foto: Boris Streubel

ekbo.de: Es hieß immer, Singen sei gesund. Corona lehrt uns nun wohl auch hier eines Besseren: Chöre sind Virenherde. Ist gemeinsamer Gesang lebensgefährlich?

Domkantor Tobias Brommann
: Oha, was für eine Frage. Vor einigen Wochen hätte ich das für absurd gehalten. Aber ja, ich habe wortwörtlich an meinem eigenen Leib erlebt, dass das gemeinsame Singen in einem Raum ein sehr hohes Ansteckungsrisiko bergen könnte. So wie wahrscheinlich alle Versammlungen, in denen mehrere Menschen über eine längere Zeit in einem geschlossenen Raum sitzen.
Anfang März war in einer Chorprobe aller Wahrscheinlichkeit nach mindestens ein Mitglied der Domkantorei infektiös, ohne Symptome zu haben. Nach fünf bis sechs Tagen zeigten sich bei etwa 60 der 80 Teilnehmern der Probe Krankheitssymptome, von nur geringen Auswirkungen bis zu sehr schweren Fällen mit künstlichem Koma. Es sind nur ca. 30 getestet worden (bis auf eine Ausnahme alle positiv), aber die Auswirkungen scheinen eindeutig zu sein.
Die Korrepetitorin und ich erkrankten ebenfalls, obwohl wir zum Chor einen Abstand von mehreren Metern hatten. Ich hatte zum Glück nur einen moderaten Verlauf, aber auch das war nicht lustig.

ekbo.de: Waren in Ihrem Chor „nur“ die Risikogruppen betroffen, oder traf es auch andere?

Tobias Brommann: Wir haben in der Domkantorei ein Durchschnittsalter von Mitte 40, also verhältnismäßig jung. Trotzdem gab es auch bei uns zum Teil sehr schwere Verläufe, darunter auch bei Mitgliedern, die überhaupt nicht zu irgendeiner Risikogruppe gehören, Mitte 40, keine Vorbelastungen. Es gab auch sehr leichte Verläufe. Und einige Chormitglieder hatten überhaupt keine Symptome. Da Mitte März zu wenig Tests vorhanden waren, konnte nur ein Teil der Mitglieder getestet werden, insofern wissen wir nicht, ob sich alle angesteckt haben oder nicht. Das Robert-Koch-Institut interessiert sich für den Fall, vielleicht können Erkenntnisse gewonnen werden. Aber das wird sicher noch dauern.

ekbo.de: Warum kann gerade Singen so infektiös sein?

Tobias Brommann: Derzeit weiß man noch viel zu wenig. Aber ich vermute, dass der Faktor Zeit eine große Rolle spielt. Die Aerosole werden zwar nicht weit ausgestoßen beim Singen, bleiben aber wohl lange in der Luft und verteilen sich irgendwann im gesamten Raum. Ein sicher etwas derbes Beispiel ist ein Pups, den irgendwann alle Anwesenden im Raum mitbekommen. Einige der aktuellen Studien berücksichtigen leider diese Verteilung nach einer gewissen Zeit nicht.
 
ekbo.de: Also sollten Gemeinden und Gruppen jetzt auf keinen Fall gemeinsam singen?

Tobias Brommann
: Meiner Meinung nach eher nein. Zwar ist Singen ein Ausdruck unserer Menschlichkeit und Teil unserer religiösen Identität. Aber es ist m. E. notwendig, die Risiken verantwortungsvoll abzuwägen. Im Dom beispielsweise feiern wir Gottesdienste mit einem Mini-Sängerensemble. Aus einem kleinen Pool von Menschen sind wir maximal acht, wir proben online und stehen im riesigen Dom mit Abstand voneinander. Ich nehme gerne Mitglieder aus gemeinsamen Haushalten. Darüber hinaus wäre ich persönlich nicht bereit, die Risiken zu tragen.
Wer dennoch darüber nachdenkt, muss sich im Klaren darüber sein, dass es hier nicht nur um die möglichen Ansteckungen der Gruppe geht, sondern auch die Folgeansteckungen in Familie, Beruf usw. In anderen Chören sind nach einer Infektion in einer Probe Menschen gestorben. Das war bei uns Gott sei Dank nicht der Fall.
Darüber hinaus steigen derzeit die allgemeinen Fallzahlen wieder. Was passiert, wenn in einigen Wochen oder Monaten ein weiterer, noch restriktiverer Shutdown droht, nur weil wir jetzt zu ungeduldig sind? Dies alles muss verantwortungsvoll abgewogen werden. Und meine Meinung ist: Das geht derzeit nur mit sehr, sehr wenigen Singenden. Selbst bei dem Kompromiss, den ich versuche zu finden, fühle ich mich nicht wohl. Und ich kann nur hoffen, dass mir das nicht irgendwann auf die Füße fällt und sich nicht auch ein Mini-Ensemble als zu riskant herausstellt.

ekbo.de: Ich singe selbst in der Kantorei meiner Gemeinde und weiß, wie sehr es schmerzt, nicht mehr gemeinsam singen zu dürfen. Wie lange wird es Ihrer Meinung nach noch so sein?

Tobias Brommann
: Das Einzige, das ich jetzt mit Sicherheit behaupten möchte, ist, dass man derzeit nichts mit Sicherheit behaupten kann. Dafür wissen wir zu wenig. Ich persönlich stelle mich darauf ein, dass bis zu den Sommerferien das gemeinsame Singen in normaler Chorstärke nicht möglich sein wird. Für die Zeit danach bin ich skeptisch. Wir befinden uns ja erst am Anfang der Pandemie.

ekbo.de: Also müssen wir da jetzt durch?

Tobias Brommann: Ich fürchte, ja.

Interview: Katharina Körting

Update zum Thema:

Die Verantwortlichen für Kirchenmusik in der EKBO haben sich nun für Solisten, Chöre und Bläser auf geringfügige Lockerungen verständigt. Demnach sind Chor- und Bläserproben zwar bis zum 5. Juni je nach Bundesland nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich. Singen und Musizieren in Gottesdiensten ist aber möglich.

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