Perikopen, das Herausgeschnittene, sind die biblischen Lesungen und Predigttexte, die für die Gottesdienste an Sonn- und Feiertagen ausgewählt wurden. Durch die Perikopen, zu denen im weiteren Sinn auch die Lieder eines Sonntags gehören (Wochenlieder), erhält jeder Sonntag seinen besonderen Charakter.
Im Laufe eines Kirchenjahres erzählen diese biblischen Texte die Geschichte Jesu Christi zu den großen Festzeiten von Weihnachten und Ostern mit den Vorbereitungszeiten Advent und Passionszeit. Im zweiten Teil des Kirchenjahres werden Lebens- und Glaubensthemen der christlichen Gemeinde erzählt und vertieft. Dabei kommt die ganze Bibel aus Altem und Neuem Testament zu Wort.
Einführung in das Thema bietet Die Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder 2018 von Martin Evang, in: Quatember. Vierteljahreshefte für Erneuerung und Einheit der Kirche, 84. Jahrgang, Heft 1, 2020, S. 36-44, mit freundlicher Genehmigung der EVA Leipzig.
Schon in der Antike kannte und noch heute kennt der jüdische Gottesdienst Ordnungen, nach denen die Bibel in bestimmten Zeitabschnitten gelesen wird. Dabei werden die fünf Mosebücher, die Tora, als wichtigster Teil der Bibel in einem ein- oder dreijährigen Zyklus vollständig vorgetragen. Ergänzend kommen ausgewählte Abschnitte aus den Prophetenbüchern hinzu. Die Leseordnung gewährleistet, dass das heilige Buch – und damit Gott selbst, der durch sein geschriebenes und gelesenes Wort zur Gemeinde spricht – in überschaubaren Zeiträumen in seiner Weite und Tiefe zu Gehör kommt. Die Leseordnung verhindert, dass das geschriebene Gotteswort nur in zufällig getroffener Auswahl und deshalb subjektiv verkürzt oder verflacht laut wird.
Dieses Anliegen, das übrigens auch biblische Leseordnungen für die private oder gemeinschaftliche Andacht in Haus und Gemeinde bestimmt (vgl. v. a. den Bibelleseplan der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen), prägt auch die zum 1. Advent 2018 in den Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland in Kraft getretene „Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder“ (OGTL). Wie ihre unmittelbaren Vorgängerinnen, die „Ordnung der Predigttexte“ (OP 1958) und die „Ordnung der Lesungen und Predigttexte“ (OLP 1978), enthält sie in ihrem ersten (= dem Haupt-) Teil sechs Jahrgänge biblischer Predigttexte für die Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres, also rund 450 Abschnitte der Bibel. Die Hälfte davon, also etwa 225 Abschnitte, sind Jahr für Jahr als gottesdienstliche Lesungen vorgesehen: 75 Abschnitte aus dem Alten Testament, 75 Episteln (d. h. Abschnitte aus den Briefen des Neues Testaments einschließlich der Apostelgeschichte und der Offenbarung an Johannes) und 75 Evangelienabschnitte. Hinzu kommen in einem zweiten Teil der Ordnung über dreißig „Weitere Feste und Gedenktage“, darunter zwei Drittel lediglich mit den drei Lesungstexten, ein Drittel aber auch komplettiert zu einem ‚Sixpack‘ an Predigttexten. So enthält ein sechsjähriger Predigttextzyklus rund (450 plus 120 =) 570 biblische Predigttexte, darin eingeschlossen rund (225 plus 90 =) 315 biblische Abschnitte, die zur jährlichen Lesung vorgesehen sind. Zwar werden diese Zahlen in der gelebten gottesdienstlichen Praxis eines Lesungsjahres bzw. eines Predigtjahrsechsts faktisch in keiner Kirche oder Gemeinde erreicht; dennoch ermöglicht und begünstigt die Ordnung, dass die Botschaft der Bibel im Rhythmus der Jahre in ihrer Fülle und Vielfalt erklingt.
Auf der gesamtkirchlichen „Ordnung der Lesungen und Predigttexte“ (OLP 1978 ) ruhte bereits auf und auf die revidierte „Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder“ (OGTL 2018) ist nun umgestellt die „Leseordnung im Kirchenjahr“, die im Evangelischen Tagzeitenbuch der Michaelsbruderschaft enthalten ist. In biblischen Abschnitten für jeden Morgen und jeden Abend vertieft sie das thematische Grundmotiv des jeweiligen Sonntags bzw. Sonntagsevangeliums – ein biblisches Schatzhaus für das Morgen- und Abendgebet.
Differenziert die „Leseordnung für das Kirchenjahr“ die im Wesentlichen auf die Woche hin orientierte „Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder“ für die einzelnen Tage, so wird diese (bzw. derzeit noch ihre Vorgängerin: die „Ordnung der Lesungen und Predigttexte“) auf den Monat hin komprimiert in „Gottesdienste von Monat zu Monat – Elementares Kirchenjahr“. Diese 2009 von der Liturgischen Konferenz erstellte Leseordnung will der Entwicklung Rechnung tragen, dass an vielen Orten Gottesdienste nicht mehr im Wochen-, sondern im Monatsrhythmus gefeiert werden können. Sie will dazu dienen, dass in diesen Gottesdiensten wirklich zentrale biblische Texte gelesen werden und zu ihnen gepredigt wird.
Quelle: Martin Evang, Die Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder 2018, zuerst erschienen in: Quatember. Vierteljahreshefte für Erneuerung und Einheit der Kirche, 84. Jahrgang, Heft 1, 2020, S. 36-44, mit freundlicher Genehmigung der EVA Leipzig
Die tiefsten Wurzeln der heutigen Leseordnung liegen im Dunkeln. Ohne dass wir Präzises wissen, steht sie in der Tradition regional unterschiedlicher Leseordnungen der antiken Christenheit, die ihrerseits an das Lektionswesen des antiken Judentums anknüpfte. Die Vorgeschichte unserer Ordnung wird greifbar in einer frühmittelalterlichen Jahresreihe von Evangelientexten und einer davon unabhängig entstandenen Jahresreihe von Episteltexten, die in karolingischer Zeit – also vor 1200 Jahren – miteinander verbunden wurden und seither die gottesdienstliche Tradition der westlichen Kirche als „altkirchliche“ Evangelien und Episteln prägten. Die lutherische Reformation hat diese Reihen – bei mancher Kritik – im Grundsatz beibehalten und sie in Details sogar ursprünglicher bewahrt als die römisch-katholische Kirche, die ihre Gestalt im tridentinischen Konzil (1570) nachjustierte.
Demgegenüber hat sich die Schweizer Reformation von der überlieferten Perikopenordnung gelöst und sich auf die Predigt ganzer, fortlaufend (lectio continua) oder in Auszügen (lectio semi-continua; Bahnlesung) behandelter biblischer Bücher verlegt. Darin bekundete sich der Intention nach die entschiedene Treue gegenüber der ganzen Bibel und die Kritik an einer Perikopentradition, die sich durch Auswahl und Abstriche dem unmittelbaren Anspruch des Gottesworts vermeintlich entzog. Inzwischen sind allerdings viele reformierte Kirchen und Gemeinden bzw. ihre Predigerinnen und Prediger zur Perikopenordnung zurückgekehrt. Dass die erklärte Treue gegenüber dem geschriebenen Wort Gottes nicht zwingend eine fortlaufende Lektüre und Auslegung ganzer biblischer Bücher erfordert, sondern sich durchaus mit planmäßig ausgewählten Perikopen vertragen kann, zeigt auf seine Weise auch der programmatische Titel „Die ganze Bibel zu Wort kommen lassen“, Bezeichnung eines Perikopenmodells, das 2009 von der Konferenz Landeskirchlicher Arbeitskreise Christen und Juden (KLAK) publiziert wurde und vor allem dem Alten Testament einen erheblich höheren Rang im christlichen Gottesdienst zumisst als bisher.
Das Bedürfnis, wenn nicht zur ganzen Bibel, so doch zu biblischen Texten in größerer Breite und Vielfalt oder auch in persönlich getroffener Auswahl zu predigen, als dies die überkommenen „altkirchlichen“ Reihen erlaubten, regte sich jedoch auch in den lutherischen Kirchen. Ein schon früh nachweisbarer Widerstand gegen den sog. „Perikopenzwang“ kam im Zeitalter von Aufklärung und Pietismus vollends zum Durchbruch – um im restaurativen 19. Jahrhundert durch weiter gefasste, entweder privat entworfene oder landeskirchlich erlassene Ordnungen wieder eingehegt zu werden. Das Mittel der Wahl waren erweiterte Leseordnungen, die den sog. „altkirchlichen“ Reihen, zu denen man weithin zurückkehrte, weitere Textreihen an die Seite stellten. Dies ist das Bauprinzip der sog. „Eisenacher Perikopen“, auf die sich der deutsche Protestantismus nach längerer Vorgeschichte 1896 einigte: Die sog. „altkirchlichen“ Reihen wurde durch je eine Perikopenreihe aus Evangelien, Epistel- und alttestamentlichen Texten ergänzt. Damit war, ohne die überkommene Tradition der gottesdienstlichen Schriftlesungen aufzugeben, das Spektrum biblischer Predigttexte deutlich erweitert.
Die „Ordnung der Predigttexte“ (1958), die „Ordnung der Lesungen und Predigttexte“ (1978) und auch die „Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder“ (2018) arbeiten dieses integrierte Doppelsystem von Lesungs- und Predigttexten weiter aus und entwickeln es fort: OP 1958 etabliert einen Sechsjahreszyklus von Predigttexten. Dessen ersten beiden Reihen bilden die „altkirchlichen“ Lese-Evangelien und -Episteln; zu ihnen treten jeweils zwei weitere Evangelien- (III und V) und Epistelreihen (IV und VI) hinzu, die ihrerseits jeweils zu einem Viertel mit alttestamentlichen Texten durchsetzt sind.
OLP 1978 wertet die – im System weiterhin auf die Predigttextreihen III–VI verteilten – alttestamentlichen Perikopen zu einer regulären Kirchenjahresreihe alttestamentlicher Schriftlesungen auf. Ansonsten charakterisiert diese Revision vor allem das Anliegen, den Proprien, d.h. dem Ensemble der einem bestimmten Sonn- oder Feiertag zugeordneten Texte, ein höheres Maß thematischer „Konsonanz“ zu verleihen. Dadurch wird eine zunehmend als schwierig empfundene Folge des Umstandes behoben bzw. gemildert, dass die beiden unabhängig voneinander entstandenen und nach verschiedenen Prinzipien gebauten „altkirchlichen“ Reihen von Evangelien- und Episteltexten einst sekundär kombiniert worden waren. Im Zuge dieser ‚Flurbereinigung‘ wurden nicht wenige der „altkirchlichen“ Perikopen – mehr Episteln als Evangelien – an andere Stellen der Ordnung versetzt oder durch andere Texte ersetzt.
OLP 1978 blieb vierzig Jahre lang in Kraft. Ein 1995 von der Lutherischen Liturgischen Konferenz, die auch OP und OLP erarbeitet hatte, vorgelegter Neuentwurf wurde kirchlich nicht rezipiert, vor allem deshalb nicht, weil soeben das neue Evangelische Gesangbuch mit dem Liturgischen Kalender auf der Grundlage von OLP 1978 gedruckt und verbreitet worden war. Anlässlich des Erscheinens des Evangelischen Gottesdienstbuches 1999 erfuhr OLP an wenigen Stellen geringfügige Veränderungen. Eine im Jahr 2010 im Vorfeld der jüngsten Perikopenrevision durchgeführte breit angelegte Nutzerumfrage hatte ein doppeltes Resultat: einerseits, dass eine gottesdienstliche Textordnung prinzipiell viel Zustimmung fand und dass konkret OLP die Gottesdienst- und Predigtpraxis in einem überaus hohen Maß prägte (was sich auch aus der Orientierung der Predigthilfeliteratur an OLP erklärt); andererseits aber, dass in verschiedenen Hinsichten durchaus Bedarf für eine erneute Revision gesehen wurde.
Quelle: Martin Evang, Die Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder 2018, zuerst erschienen in: Quatember. Vierteljahreshefte für Erneuerung und Einheit der Kirche, 84. Jahrgang, Heft 1, 2020, S. 36-44, mit freundlicher Genehmigung der EVA Leipzig
Parallel zu der erwähnten Umfrage wurden auf einer wissenschaftlichen Fachtagung im Mai 2010 in Wuppertal die Grundlinien einer erneuten Perikopenrevision erörtert.
Hier war zunächst die grundsätzliche Frage zu diskutieren, ob das bisherige Perikopensystem erneut fortentwickelt oder ob die Ordnung auf das Ende 1969 eingeführte römisch-katholische Perikopenmodell umgestellt werden sollte.
„Auf dass den Gläubigen der Tisch des Gotteswortes reicher bereitet werde, soll die Schatzkammer der Bibel weiter aufgetan werden, so dass innerhalb einer bestimmten Anzahl von Jahren die wichtigsten Teile der Heiligen Schrift dem Volk vorgetragen werden“: Diesen programmatischen Satz aus der Liturgiekonstitution des II. Vatikanischen Konzils hatte die „Leseordnung für die Messfeier“ („Ordo Lectionum Missae“) umgesetzt. In Zielsetzung (und Wirkung) mit der mehrfach weiterentwickelten evangelischen durchaus vergleichbar, etabliert die katholische Leseordnung drei Lesejahre (A, B, C) mit jeweils einer alttestamentlichen (I), einer Epistel- (II) und einer Evangelienperikope (Ev) je Sonn- bzw. Festtag, ohne dabei aber zwischen Lesungs- und Predigttexten zu differenzieren. Die überkommene Prägung der Sonn- und Festtage wird zwar in den durch Weihnachten (1. Advent bis Erscheinung des Herrn) und Ostern (Österliche Bußzeit bis Pfingsten) bestimmten Zeiten weitgehend gewahrt, ist aber an den 33 oder 34 Sonntagen der ungeprägten „Allgemeinen Kirchenjahreszeit“ („Sonntage im Jahreskreis“) aufgegeben. Hier wurden isolierte alttestamentliche Perikopen thematisch konsonant zu den – als Bahnlesung angeordneten – Evangeliumslesungen (A: Matthäus; B: Markus; C: Lukas) ausgesucht, während für die Abschnitte aus den Briefen, da als eigenständige Bahnlesungen konzipiert, kein thematischer Bezug zum Evangelium intendiert ist. In Anlehnung an alte Tradition werden in der Osterzeit als Lesung II Abschnitte aus dem 1. Petrusbrief (A), dem 1. Johannesbrief (B) und aus der Offenbarung an Johannes (C) gelesen, als Evangelium (Ev) Abschnitte des Johannesevangeliums und als Lesung I statt alttestamentlicher Perikopen solche aus der Apostelgeschichte.
Der katholischen Leseordnung gelingt es eindrucksvoll, den „Tisch des Gotteswortes“ reicher zu decken, allerdings um den Preis einer doch weitreichenden Abkehr vom gemeinsamen abendländischen Perikopenbestand und ohne den aus der ursprünglichen Unabhängigkeit der altkirchlichen Evangelien- und Epistelreihe resultierenden Mangel eines thematisch-motivischen Zusammenklangs zwischen Sonntags-Epistel und -Evangelium zu beheben. So überrascht es nicht, dass die neue katholische Ordnung einerseits auch von evangelischen Kirchen – vor allem in Nordamerika – übernommen wurde („Common Lectionary“), dass dazu andererseits aber auch Modifikationen vorgenommen wurden, um dem Mangel an Konsonanz abzuhelfen („Revised Common Lectionary“).
Die Erörterung der „Systemfrage“ führte zu der Empfehlung einer lediglich „moderaten Revision“, die die Prinzipien der traditionellen Ordnung nicht aufgeben, sondern diese weiterentwickeln sollte. Zwei der hierfür – weitgehend in Übereinstimmung mit den in der empirischen Untersuchung erhobenen Nutzererwartungen – gegebenen weiteren Empfehlungen, die übrigens von den Leitungsgremien der EKD, der UEK und der VELKD sowie von der Liturgischen Konferenz als Arbeitsauftrag durchweg übernommen wurden, haben sich in der neuen OGTL besonders deutlich ausgewirkt: zunächst die Empfehlung, die homogenen Predigtjahrgänge – ein Jahr lang nur (bzw. in den Jahrgängen III–VI zu drei Vierteln) Predigttexte aus Evangelien oder Episteln – aufzulösen und einen häufigeren Wechsel vorzusehen; nach einigen Diskussionen hat man sich im Ergebnis für einen Wechsel von Sonntag zu Sonn- (bzw. Feier-) Tag entschieden.
Sodann die Empfehlung, die Anzahl der alttestamentlichen Predigttexte deutlich zu erhöhen; in der OGTL ist sie auf ein Drittel angewachsen. Zudem wurde angestrebt, die Dominanz der unter dem Gesichtspunkt der „Weissagung“ auf Christus hin ausgewählten prophetischen Texte zu reduzieren und das Alte Testament im christlichen Gottesdienst in größerer Breite und mit eigener Stimme zu Wort kommen zu lassen. So haben in der neuen Ordnung erzählende, weisheitliche und Psalmtexte gegenüber früher deutlich aufgeholt. Auch dies ist schon bei der Fachtagung und dann in der Erarbeitungsphase diskutiert worden und hat im Stellungnahmeverfahren durchaus kritische Rückfragen ausgelöst. Im Grundsatz war aber nicht strittig, dass – vor allem im Horizont des christlich-jüdischen Dialogs und aufgrund der Einsicht, dass die christliche Kirche konstitutiv auf Israel bezogen und bleibend mit Israel verbunden ist – das Alte Testament als der mit Israel gemeinsame Teil der christlichen Bibel einer qualitativen und quantitativen Aufwertung im evangelischen Gottesdienst bedurfte.
Wenn der durch eine eher sporadische Erkundung der facebook-Gruppe des Zentrums für evangelische Gottesdienst- und Predigtkultur gewonnene Eindruck nicht täuscht, so wird die seit gut einem Jahr bestehende Herausforderung, sehr viel häufiger als zuvor zu alttestamentlichen Texten – und darunter zahlreichen bisher ungepredigten Texten! – predigen zu sollen, überwiegend als anspruchsvoll, aber spannend und bereichernd begrüßt. Gerade – wahrscheinlich vorwiegend – an diesem Punkt scheint sich die bei der Erarbeitung der OGTL gelegentlich geäußerte Hoffnung, zu einer neuen Lust an der Bibel beizutragen, zu erfüllen.
Zu den Maßgaben, nach denen die Perikopenrevision vorgenommen werden sollte, gehörte auch eine Vermehrung von „Frauentexten“ und eine stärkere Berücksichtigung heutiger Welt- und Lebensfragen bei der Textauswahl. Bei beiden Erwartungen zeigte sich, dass sie nur sehr begrenzt durch eine Ordnung biblischer Lesungs- und Predigttexte einzulösen sind – auch wenn die OGTL nun deutlich mehr als OLP Texte enthält, in denen Frauen oder die von Frauen handeln. Entscheidender ist ein hermeneutisch reflektierter, insbesondere gendersensibler Umgang mit sämtlichen biblischen Texten in der Predigt oder auch in Präfamina zu Schriftlesungen; denn ohne Ausnahme entstammen sie der patriarchalisch geprägten Welt der Antike und sind gerade auch dann, wenn sie vertraut wirken, in ihrer Abständigkeit ernst zu nehmen, statt kurzschlüssig für heutige Kontexte in Anspruch genommen zu werden.
Heutigen Welt- und Lebensfragen versucht der ganz neu konzipierte dritte Teil der OGTL, eine nach Themenfeldern gegliederte und durch thematische Stichworte weiter erschlossene Sammlung von Bibelstellen, Rechnung zu tragen. Diese „Themenfelder“ ersetzen die bisher unter der Überschrift „Besondere Tage und Anlässe“ versammelten Proprien. Diese schienen, soweit sie für Kasualgottesdienste bestimmt waren, durch die vorliegenden Kasualagenden überholt zu sein; und „besondere Tage und Anlässe“ verlangen gezielt ausgewählte und verantwortete Texte, so dass sie nicht pauschal mit vorgefertigten Proprien bedient werden können.
Der zweite Teil der Perikopenordnung, „weitere Feste und Gedenktage“, entspricht in seiner Grundanlage der Vorgängerordnung, hat aber zwei eingreifende Veränderungen erfahren. Er referiert nicht mehr – am 30. November mit dem Tag des Apostels Andreas einsetzend – auf das Kirchenjahr, sondern auf das Kalenderjahr und setzt mit dem „Tag der Beschneidung und Namengebung Jesu“ am 1. Januar ein. Sodann sind sieben neue Tage hinzugekommen – dreimal zwei plus einer. In die Reihe der biblisch begründeten Feste und Gedenktage fügen sich der Tag der Maria Magdalena (22.07.) und der Tag der Enthauptung Johannes des Täufers (29.08.); beide begegnen auch in der Ökumene. Der Martinstag (11.11.) und der Nikolaustag (6.12.), ebenfalls mit ökumenischen Pendants, werden mittlerweile auch in der evangelischen Kirche häufig, oft in ökumenischen Settings, gottesdienstlich begangen; hier konnte dem Auftrag, bei der Erarbeitung der Ordnung populäre Entwicklungen zu berücksichtigen, zwanglos nachgekommen werden. Aufnahme haben sodann mit vollständigen Proprien der 27.1. als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus und der 9.11. als Tag des Gedenkens an die Novemberpogrome gefunden. Schließlich ist aus dem nun entfallenen dritten Teil der OLP das Proprium für Kirchweih dem zweiten Teil von OGTL anhangsweise beigegeben worden.
Auch der erste Teil der Ordnung, die „Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres“, hat gewisse Veränderungen erfahren. Die geringste besteht darin, dass der bisherige Erntedanktag als Erntedankfest aus sachlogischen Gründen vom ersten in den zweiten Teil der Ordnung verschoben wurde; er fällt stabil auf den 1. Sonntag im Oktober. – Bedeutsamer ist, dass zwei Sonntage nun mit zwei kompletten Proprien je eigener Färbung ausgestattet sind: Der 10. Sonntag nach Trinitatis, der traditionelle Israelsonntag, kann entweder – „grüne Variante“ – in der Perspektive „Kirche und Israel“ (vgl. bisher „Christen und Juden“) oder – „violette Variante“ – als „Gedenktag der Zerstörung Jerusalems“ begangen werden. Und der Letzte Sonntag des Kirchenjahres kann entweder als Ewigkeitssonntag oder als Totensonntag (vgl. bisher „Gedenktag der Entschlafenen“) gefeiert werden – oder je nach örtlicher Gewohnheit und Möglichkeit am Vormittag in der Kirche als Ewigkeitssonntag und später auf dem Friedhof als Totensonntag. – Bemerklich sind weiterhin gewisse Umordnungen, z. B. am Christfest, wo der Johannesprolog nun (wieder) das Evangelium am 1. Weihnachtstag bildet und die matthäische Weihnachtsgeschichte dem 2. Weihnachtstag zugewiesen ist. Auch sind die traditionell dem dritt- und vorletzten Sonntag des Kirchenjahres zugehörigen Texte thematisch neu sortiert worden. – Die wichtigste Veränderung hat das Gefüge des Kirchenjahres am Ende des Weihnachtsfestkreises erfahren. Dieses bildet nun nach biblischem Vorbild der Tag der Darstellung Jesu im Tempel (2.2.) bzw. die Woche, in die dieser Tag fällt. Das bedeutet, dass dem Letzten Sonntag nach Epiphanias stabil drei (bzw., wenn Epiphanias auf einen Sonntag fällt, nur zwei) Sonntage nach Epiphanias vorausgehen. Die bisher aus drei Sonntagen Septuagesimä, Sexagesimä und Estomihi bestehende, bereits durch den Wegfall des Halleluja markierte Vorpassionszeit hat als eine Folge von maximal fünf Sonntagen vor der Passionszeit ihre Prägung eingebüßt. Diese mit der populären Aufwertung des Weihnachtsfestes korrespondierende Änderung im Gefüge des Kirchenjahres hat schon in einzelnen Stellungnahmen zum Erprobungslektionar und dann nach Einführung der OGTL durchaus kritische Anfragen ausgelöst. Sie fällt auf den ersten Blick weniger auf, ist aber wahrscheinlich tiefgreifender als die in dem Revisionsentwurf von 1995 vorgesehene, in OGTL aber nach eingehender Diskussion nicht übernommene neue Gliederung und Zählung der Sonntage nach Trinitatis in Sonntage nach Pfingsten, nach Johannis (24.6.) und nach Michaelis (29.9.).
Eine Bewertung der OGTL steht mir nicht zu; eine Bilanz, wie sie sich bewährt, käme zu früh. So sei abschließend wenigstens betont, dass die OGTL schon in ihrem Titel zu erkennen gibt, dass sie auch Lieder umfasst: je Proprium zwei Lieder der Woche bzw. des Tages, die sich in Epochenzugehörigkeit, Stilistik u. ä. deutlich unterscheiden. Gegenüber dem alten, im Kern aus den 1950-er Jahren stammenden Wochenliedplan verraten die Lieder in OGTL einen größeren Modernisierungsschritt als die Texte, ohne aus dem Rahmen einer „moderaten Revision“, als welche die Perikopenrevision beauftragt war und erarbeitet worden ist.
Quelle: Martin Evang, Die Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder 2018, zuerst erschienen in: Quatember. Vierteljahreshefte für Erneuerung und Einheit der Kirche, 84. Jahrgang, Heft 1, 2020, S. 36-44, mit freundlicher Genehmigung der EVA Leipzig
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