25.02.2025
Predigt von Bischof Christian Stäblein anlässlich des Beginns des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine
Liebe Gemeinde heute Abend, der HERR ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind, und hilft denen, die ein zerschlagenes Gemüt haben – so heißt es im 34. Psalm, kurz vor Schluss, ein Satz, in dessen Hoffnung wir heute vermutlich alle einstimmen können – also, dass der Herr nahe ist.
Ein Vers auch, dessen innere Wahrheit wir aller-dings heute vermutlich ebenso teilen: zerbrochene Herzen, zerschlagenes Gemüt, Geist, Gebeine, die es zu bewahren gilt. Seit drei Jahren ist das jetzt so, und wenn Sie den Geschichten der Menschen in der Ukraine zuhören, wissen Sie, was zerbrochene Herzen und zerschmetterte Gebeine sind, die Berichte von den Kämpfen, das Zerfetzt werden auf den Feldern und in den Gräben, die vernichtenden Kriegshandlungen im Donbass im Osten des Landes, aber auch der von Drohnen und Bombenangriffen zerstörte Alltag in Kiew oder in Charkiw oder in Mariupol.
Ich sah am Wochenende längere Statements von Jugendlichen und jungen Menschen im Krieg dort und wie sie kein Leben ohne Angst und ohne ständigen Blick aufs Handy mehr kennen, keine Möglichkeit mehr zum Treffen mit Freunden, die Schule unter der Erde – zerbrochene Herzen, geschundene Gebeine, zerstörter Geist eines Landes und auch Europas.
Ich staune manchmal, wie schnell Menschen im Rest der Welt über diese letzten Jahre hinweg gehen können, wie schnell in dem sich drehenden Wind der großen Weltpolitik nicht nur der Aggressor nicht mehr beim Namen genannt wird, sondern die vielen, unerträglichen Kriegsverbrechen verdrängt und vergessen werden. Butscha etwa.
Ein Ort, der in den ersten Kriegswochen ausgelöscht wurde durch die russische Armee. Oder die vielen, die in die Gulags verschleppt wurden. Wir sind bei denen, die zerbrochenen Herzens und mit zerschlagenen Gebeinen sind, liebe Gemeinde, erinnern das an diesem Tag und versprechen, dass wir sie nicht vergessen werden. Dass ihre Namen genannt und gesagt werden und erinnert vor Gott.
Und ja, es ist Krieg und zur Kriegswirklichkeit gehört die Trauer und der Schmerz auf allen Seiten, wir trauen und weinen um alle Menschen, um die russischen Soldaten und Kinder und Frauen und Männer wie um die ukrainischen Soldaten und Kinder und Frauen und Männer – in Trauer und Schmerz und Tod sind wir Menschen vereint. Im Benennen von Verantwortung und Aggressor werden wir allerdings weiter nicht schwei-gen.
Es gibt keine Hierarchie im Leiden, aber es gibt unterschiedliche Verantwortung und der Verrat, den die Ukraine derzeit erlebt, der darf nicht unser Verrat werden. Das gehört auch zu diesem Tag, der ja mitten in dem liegt, was die Zeitenwende, die wir seit Jahren spüren, noch übersteigt.
Es ist eine Epochenwende, wenn die Macht, die bisher im Westen für Werte wie Freiheit und Würde und auch Wahrheit stand, wenn die sich nun auch da einreiht, wo aus Opfern Täter werden und aus Krieg Spezialoperationen und aus Verhandlungen Deals und aus Miteinander ein wie du mir, so ich dir.
Es ist eine Epochenwende und bis wir Europäer das lernen, so die Sorge, könnte die Ukraine schon verraten sein. Auch das gehört zu diesem Tag.
Was ist unsere Aufgabe als Kirche heute, als Menschen, die sich zu Gott wenden und von seinem Wort und seinen Zusagen her kommen? Die erste Aufgabe habe ich genannt: Ort der Klage und des Leides sein, Ort der Hoffnung auch, dass Gott in diesem Leid nahe ist, nicht allein lässt und Wege dadurch und daraus zeigt. Und wir also standhalten bei den Opfern, bei den Betroffenen.
Der zweite Auftrag findet sich in eben diesem 34. Psalm wenige Verse vorher: Suche Frieden und jage ihm nach heißt es da. War vor ein paar Jahren Jahreslosung – 2019 – wäre jetzt auch eine gute Jahreslosung, denke ich. Es ist der zweite Halbsatz des 15. Verses im Psalm. Suche Frieden und jage ihm nach. Suche Frieden, verfolge ihn heißt es da wörtlich im hebräischen Urtext, verfolge ihn und ersehne ihn – in dieser Zeit, die so jagend ist in ihren Veränderungen und Umwälzungen und dabei doch auch ein Topf immer stärker brodelnder Sehnsucht nach Achtsamkeit – irgendwie ja beides, immer stärkere Wellen von Umbruch und Polarisierung und zugleich immer stärkere Sehnsucht nach dem, was zwischen den Händen zerrinnt – in dieser Zeit bleibt suchen nach Frieden größte Aufgabe, in Gottes Namen ja: dem Frieden gilt es hinterher zu rennen, auch so kann man die Worte des Psalms übersetzen.
Suche Frieden und renne ihm hinterher und nicht den Kriegstreibern und Weltverteilern, die jetzt um sich greifen und dabei den Friedensengel spielen, der die Menschen vergisst und die Kinder besonders. Dem Frie-den hinterher rennen, einem echten Frieden, keinem Diktat, das ist unsere Aufgabe mit allen Möglichkeiten, die wir haben, die erste davon das Gebet selbst, das Bitten und Beten. Wo hier suchen im Deutschen steht, heißt es im Original auch bitten – und zwar mit einem Wort, das im modernen Hebräisch zur gängigen Alltagssprache gehört: Bewakascha: Bitte. Bitte Frieden. Bewakscha – Toda. Bitte – Danke.
In den vergangenen drei Jahren haben wir damit nicht aufgehört und werden damit auch nicht aufhören: mit diesem Bitten, mit diesem Gott in den Ohren liegen, dass wir Lösungen finden, dass wir Angegriffene schützen, dass nicht das Recht des Stärkeren bestimmt, sondern die Menschlichkeit, bitte und handle danach. Beten und helfen, den Geflohenen als allererstes, das war und das ist unsere Aufgabe. Wir haben von einem langen Atem gesprochen, nun ist er gefragt. Bitte um Frieden und renne ihm hinterher.
Es ist wirklich eine klare, direkte, in guter Weise elementare und schlichte Sprache, die dieser Psalm 34 mit uns einübt – auch das ist wichtig in einer Welt verrohter Sprache. Durch uns möge sprechen, tönen die Sprache der elementaren Zuwendung zu Gott und zu den Menschen. Und wenn wir also an diesem Punkt sind, liebe Gemeinde, dann ist es auch wichtig, den ganzen Vers 15 aus dem 34. Psalm zu hören, nicht nur den zweiten Halbsatz, sondern den ganzen Vers: Halte dich fern vom Bösen und tue Gutes, heißt es in der ersten Hälfte des Satzes.
Halte dich fern vom Bösen und tue Gutes – im hebräischen Original ist das alles noch kürzer, elementarer. Meide Böses, tue Gutes, bitte Frieden, sei ihm hinterher. Das spannt den Bogen auf, in dem wir uns bewegen – und so einfach die Worte, so schwer diese Welt und wir selbst in ihr. Fern vom Bösen?
Wir haben ja wieder eine Ahnung davon, dass es das gibt, dass das wirkmächtig ist, das Böse. Nicht nur durch und im Krieg gegen die Ukraine. Auch durch die anderen Kriege, nicht zuletzt gegen die Menschen in Israel und mit den schrecklichen Folgen für die Menschen in Gaza. Das Böse. Wenn unter Musik und Volksfeststimmung Kinderleichen übergeben werden, wie in den letzten Tagen von der Hamas, dann haben wir eine Anschauung, wie das Böse die Menschen besetzen und entstellen und pervertieren kann. Wir wollen auch das heute nicht vergessen.
Halte dich fern vom Bösen – wir wissen, wie schwer das, weil es ja auch in mir selbst wühlt und tobt, wenn wir Wut spüren und Ohnmacht bekämpfen wollen. Halte dich fern davon, das sagt sich leichter als es sich tut, wir wissen das alle. Und um so wichtiger die klaren Worte der Bibel, des Psalms, die ja keine ausgefallene und ausgefeilte Friedensethik sind, aber die die entscheidenden Spuren für eine solche legen. Mit klarer, im besten Sinne einfacher Sprache in einer schwierigen Welt und in aller Komplexität, die eben da ist: Böses, Gutes, Bitten, Sehnen, Verfolgen. Frieden. Das geht ja, wie wir wissen, nicht alles einfach eins in eins übereinander, das scheint sich bisweilen sogar zu widersprechen, weil der Schutz der Menschen Dinge erfordert, die es unmöglich erscheinen lassen, allem Bösen fern zu bleiben.
Waffen töten. Keine Waffen geben tötet auch, liefert aus. Das zerreißt. Und braucht gerade dann das Sehnen nach Frieden, das Suchen, das Erbitten – und das im Blick behalten der Menschen. Sie zusammen bringen an runden Tischen. Den Kontakt halten. Das Reden nicht aufgeben. Die Opfer sehen, nicht verdrängen. Die Opfer, die Geschundenen. An ihrer Seite und unter auch dem, was wir tun und oft auch zerreißt, erhoffen wir Gott. Er ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind, deren Gemüt zerschlagen, deren Gebeine zerschunden und verloren. Das ist das erste und das ist die Ausrichtung und das ist die Aufgabe. Einfache Worte. Harte Zeit. Komplexe Welt. Starke Hoffnung. Große Zusage. Von ihr, auch von ihr haben wir heute zu künden. Suche Frieden und jage ihm nach. Amen.