Sechster Gedenkgottesdienst - Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz

19.12.2022

Predigt von Bischof Christian Stäblein in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche

Mit einer Andacht, Glockenschlägen und der Verlesung der Namen wird heute, am 19. Dezember 2022 in Berlin an die Opfer des Terroranschlags auf dem Breitscheidplatz erinnert.

Predigt von Bischof Christian Stäblein zum 6. Gedenkgottesdienst:

 

Liebe Gemeinde,
was ist schon alles über diese Stille gesagt worden. Die Stille nach dem der Attentäter sein mörderisches Werk getan hatte, mit dem LKW, bis er dann stand. Und dann, Sie wissen das, liebe Angehörige der Opfer, liebe Schaustellerinnen und Schausteller, die Sie vor sechs Jahren dabei waren, liebe Berlinerinnen und Berliner und von überall her, die Sie, die wir diesen 19. Dezember nicht vergessen werden, Sie wissen das: Diese Stille. Schrecken. Mord. Ein Riss in der Zeit. Für einen Augenblick steht alles still, überlaut danach im zweiten Moment ein Surren und Pfeifen, als ob die Welt durchschnitten wird. Und schließlich sogleich: Schreie. Rennen, laufen, helfen, retten, verbinden, verarzten, gut zu reden, trösten, Hand halten, aushalten, warten, weinen, geschockt sein, nicht aushalten, sterben. Alles auf einmal.

Liebe Trauer- und Erinnerungsgemeinschaft, jedes Jahr, wenn wir hier zum Gedenken zusammen kommen, werden wir in die Erinnerung dieser Stille gerufen. Das ist so, das muss so sein, das ist richtig so. Wir werden niemals diesen Moment vergessen, als der Terror über diesen Platz und über die Menschen, die hier gefeiert haben, hereingebrochen ist. Wir werden das nicht vergessen und auch nicht den Zusammenhalt, der in diesem Moment neu entstanden ist – für die Verwundeten, für die Ermordeten, für die, die mit dem Verlust seitdem leben müssen. Berlin vergisst nicht. Berlin verschweigt nicht. Berlin wird einen Moment still. Und gedenkt.

In dieser Kirche, in diesem durch die Fensterkunst blauen Raum, in dem wir sind und der direkt an den Ort des Geschehens angrenzt, in dieser Kirche ist Stille für mich immer, also ob man seine Gedanken mit blauer Tinte auf die Glasfenster schreibt. Blaute Tinte auf blauem Glas, sozusagen geschrieben in die Ewigkeit Gottes: die Klage, die Rufe, das Warum, die Bitten, die Sehnsucht nach gehalten werden, nach Gottes Tragen. Diese Kirche vergisst nicht. Gedächtniskirche. Ein Gedächtnisraum in blau – für die Opfer, für uns, für Euch.

Liebe Gemeinde,
was ist schon alles über diese Stille gesagt und gesungen worden, die Stille in der Nacht im Stall von Bethlehem, als Jesus geboren wurde. Es ist wie bei jeder Geburt. Wenn das neue Leben da ist, hält man für einen Moment den Atem an. Und bei dieser Geburt wird es ja so, als ob die Welt den Atem angehalten hat, in Erinnerung anhält. Ob wir jetzt fromm sind oder nicht, dran glauben oder nicht, Jesus eine Bedeutung für uns hat oder nicht – das Fest, in dessen Vorahnung und Vorbereitung hier der Markt auf dem Platz ist, dieses Fest zeigt uns, zeigt unserer Gesellschaft die Stille. Nicht die Stille nach dem Moment des Terrors, die Stille im Augenblick des neuen Anfangs. Das ist der tiefe Sinn dieses Festes. Es zeigt uns, dass die Stille der Liebe, die Stille der Gemeinschaft, die Stille des neuen Lebens stärker ist. So mischt Gott sich ein in diese Welt. So. Und mit seinem Lebensschrei. Denn, das ist ja klar, im Stall, bei der Geburt, da wird der neue Erdenbürger gebrüllt haben, geschrien. Da. Und am Kreuz erst recht. Gegen alles Verschweigen und gegen alles Morden schreit Gott in Jesus Christus. Mischt sich ein. Verwandelt die Stille. Trägt unsere Klagen – blau auf blau -, dass sie gehört bleiben.

Liebe Gemeinde, mancher sagt: nach sechs Jahren ist auch mal gut. Und es gibt ja auch so viel anderes. Ich sage, wir sagen: Nein. Es ist nicht mal gut. Es braucht dieses Hineingehen in die Stille. Wir schreiben blau in blau, dass Berlin nicht vergisst, dass Berlin, dass wir an der Seite der Opfer, der Angehörigen sind. Wir schreiben in Gedanken mit blauer Tinte auf blaue Fenster, dass wir nicht allein lassen, die vom Terror getroffen worden sind. Dass wir zusammen stehen in den Religionen, in den Gesellschaften, in Polen, in Italien, in Israel, dass wir zusammen stehen in der Politik, zusammen stehen in der Stille und in dem, was zu tun ist, in aller Solidarität mit denen, die wahllos als Ziele unserer freien Gesellschaft getroffen wurden und Leid tragen. Wir gehen immer wieder in diese Stille und hoffen, dass sie sich verwandelt wird, dass aus dem Dunkel des Todes Gottes Ewigkeit aufbricht. Aus finsterer Nacht blaues Licht wird. Im Zement unter dem Morden ein goldener Riss sichtbar. Aus der Stille ein Singen. Shine a light. Sieh, das Licht. Wie es in die Stille hinein bricht. Wir werden nicht aufhören das zu erinnern. Berlin vergisst nicht. Gottes ewiges Licht verlischt nicht. In der Stille der Schrei. Und das Wort, das trägt. Du. Du bist da. Und wir. Wir sind bei Dir. Was ist schon alles über die Stille gesagt worden. Wir werden nicht aufhören, darin das Sterben zu erinnern. Und nach dem Leben zu lauschen. Amen.

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